Im Tal des Vajont
zurückgekommen sei. Er antwortete, er sei seit Stunden verschwunden und auch nicht wieder aufgetaucht. Da gab ich ihm den Käselaib, den mir Paol dal Fun geschenkt hatte, und nahm die ersten Steigungen des Cerentón in Richtung der Roppa del Cor und der Käserei Cornetto, meinem Schicksal entgegen.
Nie hätte ich mir vorstellen können, was nur wenige Stunden später geschehen sollte.
Ganz langsam stieg ich hinauf und immer höher, bis ich schließlich mit meinen Gedanken im Kopf und dem Rucksack auf dem Rücken in die Nähe der Roppa kam. Hier ruhte ich mich ein wenig aus, bevor ich die Wegstrecke über die Ebene einschlug, die nah an jener vermaledeiten kilometertiefen Foiba vorbeiführt. Dies ist der direkte Weg, den man immer geht, wenn man keine Tiere mit sich führt und daher nicht auf den weiter unten verlaufenden längeren Weg ausweichen muss. Denn dann besteht schließlich keine Gefahr, dass die Tiere in den Abgrund stürzen könnten.
Aber heute denke ich, hätte ich die längere Strecke weiter unten gewählt, dann wäre vielleicht nicht passiert, was passiert ist, und ich säße jetzt nicht hier, mit dem Kopf in den Händen vergraben. Doch vielleicht hatte dort oben ja alles bereits jene Hexenschlampe ausgeheckt.
Damals holte ich zunächst einmal Luft und machte mich auf den Weg.
Dann, als ich nur noch wenige Meter von der Foiba entfernt war, stürzte plötzlich Raggio, wie eine Furie mit dem Stock in der Luft fuchtelnd und der Krone auf dem Kopf, hinter einer großen Tanne hervor und schrie, jetzt endlich sei der Moment gekommen, wo er mich totschlagen und ins Loch hineinstoßen würde. Ich warf den Rucksack auf den Boden und begann im Kreis um das Loch herum zu rennen, denn hätte ich versucht, nach oben oder nach unten zu flüchten, hätte er mich sicher erwischt. Ich trug immer noch den Arm in der Schlinge und konnte mich daher nicht bewegen, wie ich wollte. Aber indem ich um die Foiba herumrannte, konnte ich ihn auf Abstand halten, denn so blieb ihm nichts anderes, als selbst auch im Kreis zu rennen. Im Laufen schrie ich: »Hör auf, Raggio, bitte, hör auf damit, lass uns doch reden und wieder Freunde werden.« Aber er war jetzt vollkommen außer sich, schäumte wie ein tollwütiger Hund, stieß seltsame Schreie aus und schnaubte wie ein wild gewordener Stier.
Mit der gesunden Hand fasste ich hinter meinen Rücken und suchte die Hippe, aber sie war nicht da. Da erinnerte ich mich, dass ich sie in den Rucksack gesteckt hatte, noch bevor ich vom Dorf hierher aufgebrochen war, und nun packte mich die Angst, und ich dachte, wie dumm ich doch war.
Ich weiß nicht, nach wie vielen Umkreisungen um das Loch herum ich schließlich genug hatte, auch begann ich erschöpft zu sein und merkte, dass Raggio immer näher kam. Also sei es, wie es sei, jetzt würde ich ein für allemal dem Ganzen ein Ende setzen und mich ihm stellen. Ich wusste, dass ich dabei als Verlierer hervorgehen würde, denn er war gesund, seine Arme waren in Ordnung, und dazu hatte er die Kraft eines Wahnsinnigen in sich, dreimal mehr Kraft als ein normaler Mensch, während ich einen untauglichen Arm hatte und dann auch noch ohne Hippe war. Also hielt ich den Augenblick für gekommen, mit diesem Leben, wie es war, aufzuhören, immer auf der Flucht, immer auf der Hut, immer ohne Frieden. Wenn er mich tötet, Amen, aber ich würde meinem eigenen Tod nicht tatenlos beiwohnen; jetzt gab es nur eins von beiden: er oder ich.
Da kam mir die Idee, wie ich ihn loswerden konnte. Ich ließ ihn bis fast auf die Weite eines Stockhiebes an mich herankommen, blieb dann ruckartig stehen und bückte mich zu Boden. Er war so schnell hinter mir her, dass ihm keine Zeit zu reagieren blieb, geschweige denn anzuhalten, und bevor er noch mit seinem Stock zuschlagen konnte, war er schon auf mich gestürzt. Mit einem Ruck stemmte ich mich mit dem gesunden Arm vom Knie, auf welches ich ihn zur besseren Hebelwirkung abgestützt hatte, hoch und hatte Raggio quer auf meinem Rücken liegen. Es reichte, dass ich ihn mit einem Schwung zur Foiba hin abwarf, und schon waren er und sein erzvermaledeiter Stock mit einem Krachen durch den dünnen Astzaun hindurch im Loch verschwunden.
Kein Schrei, kein einziges Wort waren zu hören, nichts, gar nichts. Da packte mich eine große Angst, und ich war ganz verwirrt im Kopf. Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich als Letztes seine genagelten Schuhe sah, die mich beim Hinabstürzen anschauten, als verspotteten sie mich, wie
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