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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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und Haare waren noch in der Erde. Filippin Lucìch zog einen Knochen nach dem anderen heraus, säuberte sie und legte sie auf ein weißes Tuch, welches ich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Als er die Handknochen herauszog, musste ich an ihren Ring mit dem Kreuz denken, den ich am kleinen Finger trug, und betrachtete ihn. Dann zog er den Kopf heraus. Weil ich wusste, wie schön meine Mama einmal gewesen war, kamen mir beim bloßen Anblick des Knochenschädels die Tränen, aber dann beruhigte mich der Gedanke, dass es ja wirklich ihr Kopf war, und in einer vergangenen Zeit hatte der auch ihr schönes Gesicht getragen. Es fehlten drei Zähne, doch die anderen Vorderzähne waren so perfekt, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Haare hingegen waren losgelöst vom Schädel, aber sauber, und Felice Lucìch zog sie als Letztes heraus und gab mir dann ein kleines Büschel von ihnen zur Erinnerung in die Hand, und ich steckte sie mir in die Tasche. Ich legte alle Knochen zusammen in das Tuch, und nach einem letzten Blick verknotete ich das Tuch mit vier Knoten und legte es in die kleine Holzkiste, die Canipoli Innocente, der Schreiner des Dorfes, extra zu diesem Zweck angefertigt hatte. Da ich mit meinem verbundenen Arm recht unbeholfen beim Knotenbinden war, half mir der Totengräber Modesto Filippin Lucìch dabei. Aber da ich es sein wollte, der meine Mama zum letzten Mal auf diese Weise einschloss, gab ich mir einen Ruck und strengte mich an. Darauf hob Filippin Modesto für sie eine kleine Grube aus, nahe jener, in der sie fünfundzwanzig Jahre geruht hatte und in die jetzt Sepp Corona Giant kommen sollte, und beerdigte sie von Neuem. Während er sie hineinlegte, sprach ich noch ein Requiem aeternam mit Tränen in den Augen, dann zog ich das Haarbüschel meiner Mutter aus der Tasche, warf es in die Grube und ging.
    Nachdem ich die Knochen meiner Mama gesehen hatte, wollte ich das Dorf nicht mehr verlassen, doch musste ich in jedem Fall etwas tun, denn die Geschichte mit Raggio hatte sich zugespitzt: er oder ich.
    Und niemand kann ahnen, während ich das jetzt alles wahrheitsgemäß aufschreibe, wie sehr ich es bereut habe, das Dorf nicht gleich nach jenem Knüppelhieb verlassen zu haben. Wenn ich fortgegangen wäre, ins Ausland oder irgend sonstwohin, dann wäre vielleicht nicht geschehen, was geschehen ist, aber genau besehen, musste am Ende alles so verlaufen, weil es diese Hexenschlampe Melissa so beschlossen hatte. Und immer wenn mir jetzt die Hexe in den Sinn kommt, kann ich nicht mehr schlafen, und wenn ich nicht schlafe, muss ich an meinen Bruder Bastianin denken, der in Udine im Gefängnis sitzt, dann an die, welche im Irrenhaus von Pergine gelandet ist, und dann an meine Mama und meinen Vater, die schon zweimal unter die Erde gekommen sind, und schließlich an mein Kind, das im Käse begraben wurde.

Gegen Ende September war das Wetter so schön wie selten zu dieser Jahreszeit. Es war immer noch sehr warm, und oben auf den Bergwiesen gab es noch gutes Gras und Adler, die im Himmel kreisten und sich dabei die Flügel aufwärmten. Also beschloss ich, eine Weidezeit am Berg Cornetto zu verbringen, wo man auch in einer alten Almhütte schlafen konnte. Ich trieb meine Ziegen zusammen und durchquerte langsam das Zemolatal, ging seitlich am Dorf vorüber, stieg den Hang unterhalb der Gobba di Cerentón hinauf bis hoch zur Pian Grande di Cornetto.
    Als ich mehr als die halbe Wegstrecke gegangen war, genau an der Roppa del Cor, machte ich, wie alle, die ihre Tiere dort hinauftrieben, eine weite Schleife nach unten, um jenem vermaledeiten Loch auszuweichen, das sich dort unversehens in der Wiese öffnete. Es war eine runde Spalte mit glatten Felswänden, etwas mehr als vier Meter breit, dabei aber kilometertief. Wenn du einen Stein in diesen finsteren Höllenschlund hineinwarfst, konntest du ihn noch endlos lange gegen die vom Wasser glatt geschliffenen Felswände schlagen hören. Schon einige Kühe, Ziegen und Schafe waren dort hineingestürzt, worauf wir Hirten ringsherum einen provisorischen Zaun aufgestellt hatten, aber der nützte auch nicht viel, und deshalb gingen wir lieber auf dem unteren Weg in einem Bogen um die Doline herum. Langsam gelangte ich so schließlich zur Pian Grant di Cornetto, ohne jenes Loch zu sehen, dessen bloßer Anblick einem schon Angst einjagte. Wenn du dich über den Rand beugtest, spürtest du da einen so kalten und scharfen Luftzug herausblasen, dass man damit eine Mühle hätte antreiben

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