Im Tal des Vajont
ich in die Käserei hinein, um mir eine Scheibe Polenta mit Käse zu holen. Dabei merkte ich nicht, dass Raggio sich mir ganz still von hinten näherte. Doch die anderen hatten es gesehen und wussten ja, dass er mich verfolgte, weil, wie er immer sagte, er noch eine Rechnung mit mir offen hatte. Da hörte ich schon, wie Valentin de Nesto »Pass auf!« rief und andere, die »Schnell weg, Zino!« schrien. Ich stand mit dem Rücken zu ihm, und weil ich spürte, dass mir keine Zeit blieb, mich umzudrehen, machte ich instinktiv einen Ruck zur Seite, sodass der Stockhieb, statt meinen Kopf zu treffen, wie ein Hammerschlag auf meine linke Schulter niederging. Ich hörte noch ein hässliches Knacken von Knochen, wie wenn man Holzstecken zum Feueranzünden auseinanderbricht, dann stürzte ich zu Boden, in der Hand noch die Scheibe Polenta. Ich drehte mich um und erblickte Raggio über mir mit erhobenem Knüppel und einem Gesicht, schlimmer als das eines tollwütigen Hundes. Ich versuchte aufzustehen, um mich zu verteidigen, und während ich mich hochrappelte, sah ich, wie all die anderen sich auf Raggio stürzten, der schon dabei war, mir einen weiteren Schlag zu verpassen.
Sie zerrten ihn weg, heraus aus der Almhütte. Ich stand auf, ergriff mit dem gesunden Arm das Käsemesser vom Tisch und setzte Raggio hinterher, aber Valentin Sortàn de Nesto hatte sich schon in der Tür vor mich geworfen und herrschte mich an, ich solle das Messer fallen lassen, es reiche, wenn einer im Gefängnis saß, und jetzt müsste nicht auch noch ich das gleiche Ende nehmen wie mein Bruder Bastianin.
Ich hatte Schmerzen zum Sterben in Arm und Schulter und konnte beides so gut wie überhaupt nicht bewegen. Valentin knüpfte mit einem Stück Schnur eine Schlinge für meinen Arm, band sie mir um den Hals, und dann stieg ich zusammen mit Paol dal Fun Filippin und den beiden Kühen ganz langsam wieder zum Dorf hinunter.
Raggio dagegen hatten sie bis zu seinen Ziegen unter der Forcella hinaufgeschleppt, wo er dann die Nacht in einer von Waldarbeitern genutzten Höhle nahe der Felsnadel von Pietra Fontana verbrachte.
Ich hatte jetzt für mich beschlossen, dass es reichte. Beim nächsten Mal würde ich mich wehren, wie es sich gehört. Ich war es leid, dauernd im Alarmzustand zu leben, und an diesem Punkt sagte ich mir, entweder ich oder er, einer von beiden. Oder alles nehmen und fortgehen an einen anderen Ort, in ein anderes Land, vielleicht in die Steiermark oder nach Kärnten, wo Santo della Val hingegangen war, um dort als Holzfäller zu arbeiten, und wie er auch schon viele andere aus der Gegend. Oder ich könnte auch nach Frankreich gehen.
Ich war fast schon entschlossen, mir die Ausweispapiere für Frankreich zu besorgen, als am 12. September Sepp Corona Giant nach langer Krankheit starb. Dass Sepp de Giant gestorben war, bedeutete an sich gar nichts, nur musste man, um Platz für ihn unter der Erde zu schaffen, meine arme Mama ausgraben, wie man es immer macht in den Bergdörfern. Nach zwanzig Jahren gräbt man den alten Toten aus wie ein paar Kartoffeln, um dann den neuen hineinzulegen. Auch mein Vater wurde so ausgegraben, um einen anderen an seine Stelle zu legen. Ich war dabei gewesen, als sie ihn ausgruben, und konnte seinen Schädel sehen, der an mehreren Stellen vom Schlagholz jenes Schurken vom Col delle Cavalle zerborsten war. Auch meine Mama war schon seit fünfundzwanzig Jahren tot, und jetzt stand es ihr zu, von Neuem den Himmel über ihrem Dorf sehen zu können.
Der bloße Gedanke, sie nur in Form von Knochen wiederzusehen, ließ mich zwei Nächte lang nicht schlafen, was mir bei meinem Vater nicht passiert war. An diesem Tag ging ich schon frühmorgens zusammen mit dem Totengräber Modesto Filippin Lucìch zum Grab meiner Mutter. Es war gegen Mitte September.
Als Erstes entfernte Lucìch das Kreuz, das mein Bruder Bastianin geschmiedet hatte, dann begann er mit dem Ausgraben. Ich hätte ihm gern dabei geholfen, aber nach dem Stockhieb von Raggio musste ich meinen linken Arm in der Schlinge um den Hals tragen. Der Arzt in Cimolais hatte mir gesagt, dass ich ihn wenigstens für einen Monat so tragen müsse. Also setzte ich mich auf ein Grab daneben und schaute ihm beim Ausgraben zu. Modesto Filippin Lucìch, der Totengräber, arbeitete mit Pickel und Schaufel ruhig vor sich hin, bis er schließlich »Da ist sie ja!« ausrief. Er entfernte die Erde von den Überresten meiner Mama. Den Sarg gab es nicht mehr, nur ihre Knochen
Weitere Kostenlose Bücher