Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
ihre Fantasien schlich.
Am liebsten hätte sie ihn verflucht, doch dafür liebte sie ihn noch immer zu sehr.
Johanna seufzte und beschirmte die Augen mit der Hand.
Sie hatte in Büchern nur wenige Abbildungen des fremden Landes gefunden. Schlechte Drucke von Tuschezeichnungen, keine war koloriert. Der Anblick, den Neuseeland schon jetzt bot, war überwältigend. Auffrischender Wind zerrte an ihrem guten Reisekleid, das sie extra für das Wiedersehen mit Thomas aufgehoben hatte, und blähte die Segel des Dreimasters.
Die Luft war warm, feuchtigkeitsschwanger, als habe es vor Kurzem geregnet. Es roch nach üppigem Grün, ein ganzes Kaleidoskop aus Düften drängte sich auf. Johannas Sinne waren überwältigt. Wochenlang hatte sie nichts als endlose Wogen gesehen, nichts anderes gerochen als Salz und Gischt, den Gestank der Viehdecks und ungewaschener Menschen.
Johanna stützte sich auf die Reling. Nichts hätte sie jetzt hier weggebracht, und die Abenteuerlust ließ ihr Herz schneller schlagen. Näher, immer näher kamen sie dem fremden Land! Vor den Berghängen erstreckte sich eine grüne Ebene. Die gerade Küstenlinie teilte sich in flache Eilande, auch sie grün überwuchert. Grasbewachsene Dünen erhoben sich hinter einem breiten Strand, über dem Vögel segelten. Der Sand war schmutzig dunkel, fast schwarz. Treibholz und ganze Baumstämme schienen halb darin versunken.
Die Lionheart folgte der Küste eine Weile. Gebannt starrte Johanna auf das neue Land, das so lange nur in ihrer Vorstellung existiert hatte. Es sah wild aus, aber zugleich erstaunlich vertraut. Zu ihrer Erleichterung waren die Zeichen der Zivilisation deutlich zu sehen. Schafe sprenkelten die Hügel wie weiße Blumen, und ihr leises Blöken, das über das Wasser herüberhallte, klang so vertraut, dass sie gegen die Tränen ankämpfen musste.
Das Land teilte sich und schien das Schiff wie mit geöffneten Armen willkommen zu heißen. Das musste die Mündung des Whanganui sein. Braun und schlammig traf er auf die klare blaue Tasmansee. Unter der Bordwand mischte sich Süß- und Salzwasser zu brackigen Strudeln. Es roch erdig, nach Land. Vertrauter Wiesenduft und fremder harziger Waldgeruch. Das Schiff korrigierte den Kurs, kurz fielen die Segel zusammen, um sich gleich darauf wieder knatternd im Wind zu blähen. Der große Segler blieb nicht lange unbemerkt. An Land läutete hell eine Kirchenglocke und rief die Menschen zusammen.
Hübsche weiß getünchte Häuser tupften die Wiesen, andere duckten sich unter schlanke Nadelbäume mit flachen Kronen.
Und dort war der Hafen, hinter dem sich die kleine Stadt Petre ausbreitete. Lagerhäuser säumten das Ufer, und zahlreiche Stege streckten sich wie Arme in den Fluss. Fässer, Kisten und Bündel stapelten sich. Ganz in der Nähe ankerten Fischerboote und tief liegende Lastkähne. Kleine schmale Eingeborenenboote, wie Johanna sie aus Büchern kannte, huschten zwischen den Stegen umher. Ein Kanu, lang gestreckt und mit zahlreichen Rudern, schnellte direkt auf die Lionheart zu.
Die Ruderer bewegten sich gleichzeitig und trieben ihr seltsames Gefährt in atemberaubendem Tempo durch die Wellen. Es kam immer näher.
Der Wind trug ihre Stimmen herüber, noch bevor die Männer genau zu erkennen waren. Sie sangen in einer fremden Sprache. Jetzt würde Johanna endlich die Eingeborenen sehen!
Am Bug der Lionheart entfuhr einer Frau ein Entsetzensschrei. Die Männer lachten und wurden plötzlich still.
Auf der Spitze des schmalen Bootes brachen sich die Sonnenstrahlen, als seien einzelne Stellen mit Silber verkleidet.
» Das sind Maori! « , rief jemand aus, und im nächsten Moment summte das Deck nur so von aufgeregten Stimmen.
Johanna schwieg fasziniert.
Das Boot war jetzt ganz nah und rauschte genau dort, wo Johanna stand, am Schiff vorbei. Es mussten bald dreißig Männer darin sitzen. Groß und kräftig sahen sie aus. Ihre bloßen Oberkörper waren braun gebrannt, und viele hatten verschlungene dunkle Muster auf die Haut tätowiert. Sie trugen merkwürdige Röcke und geflochtene Umhänge mit Federn daran.
Wie auf einen Befehl hin hielten sie plötzlich in ihren Bewegungen inne, sahen hinauf und reckten ihre Fäuste unter wildem Kriegsgeheul nach oben. Dabei verdrehten sie die Augen auf schaurige Weise und streckten mit grimassenhaft verzogenen Gesichtern die Zunge heraus.
Plötzlich sah Johanna die Steine in ihren Händen. Sie holten aus, und ein Steinschauer hagelte gegen die Bordwand.
Johanna
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