Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
an Liam. Was war nur mit ihm geschehen?
Im Kellerverlies des Towers von London war es stockfinster. Dunkler, als es je in der Nacht sein konnte.
Liam hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, und auch an das leise Trippeln, das die Füße der Ratten auf dem Steinboden verursachten. Er brauchte seine Augen nicht mehr, um sich in der winzigen Zelle zurechtzufinden. Vier Wände, davon eine aus Gittern und eine mit einer eisenbeschlagenen Holztür. In einer Ecke mit Stroh schlief er, und in der anderen Ecke ein Eimer, in dem er seine Notdurft verrichtete.
Seit einem Tag war auch die Nachbarzelle bewohnt. Liam hatte gehört, wie die Wächter den Mann hereinbrachten. Der Fremde atmete schwer und stöhnte im Schlaf. Er hatte Schmerzen, und so panisch, wie er reagierte, wenn Wächter durch die Gänge patrouillierten, war er offenbar gefoltert worden.
Liam war froh, dass ihn seine Herkunft wenigstens davor schützte. An ihn trauten sich die Wächter nicht heran. Noch nicht. Vielleicht würde sich auch das ändern, wenn Waters’ Sippe genug Geld fließen ließ.
Es war eine Woche her, dass Liam zuletzt mit einem Menschen gesprochen hatte. Seitdem war kein einziger Laut mehr über seine Lippen gekommen. Er räusperte sich, und selbst dieses Geräusch klang irgendwie falsch in der Stille des Kerkers. Der Geschmack von nassem Stein, den die Wände ausdünsteten, lag wie Blei in seiner Kehle.
Heute war es so weit, heute wollte sein Freund Kenneth neue Nachricht bringen. Er und zwei weitere Freunde von der Akademie versuchten seit Monaten, den Prozess gegen Liam neu aufzurollen und so seinen Freispruch zu erwirken.
Bislang war es ihnen nicht einmal gelungen, die Haftbedingungen zu verbessern, und Liam verlor langsam die Hoffnung. Die Fabrikantenfamilie um Thomas Waters war einfach zu einflussreich.
Bis heute konnte niemand nachweisen, dass Thomas Duncan beim illegalen Duell in Battersea Fields getötet hatte.
Wie ein eiserner Ring legte sich jedes Mal die Trauer um Liams Brust, wenn er an den Tod seines jüngeren Bruders dachte. Warum war er nur so schrecklich leicht zu reizen gewesen? Duncan hatte immer anderen beweisen wollen, was in ihm steckte, seinem älteren Bruder, Freunden und nicht zuletzt dem früh verstorbenen Vater.
An dem unglückseligen Abend des Offiziersballs hatte Liam den Ehrenhandel abgelehnt. Stoisch hatte er sich Waters’ Beleidigungen angehört und sie wirkungslos an sich abprallen lassen. Sein Glück, Johanna Chesters Gunst errungen und sie geküsst zu haben, konnte Waters ihm nicht nehmen. Und Liam sah nicht ein, sein Leben in einem Duell aufs Spiel zu setzen, wenn sein Gegner nicht einmal das gebürtige Recht hatte, ihn zu fordern.
Doch Duncan war das gleich gewesen. Sofort nach der Rückkehr vom Ball war er unbemerkt losgeritten. Und das Unglück nahm seinen Lauf. Jetzt war Johanna Thomas Waters’ Frau und Duncan tot.
Liam rieb sich das Gesicht. Nein, er weinte nicht. Niemals. Er würde erst trauern, wenn er seinen Bruder gerächt hatte. Wenn, wenn…
Der Mörder war jetzt irgendwo in Neuseeland. Genau wie Johanna, seine geliebte Johanna, die erste Frau, die den Weg in sein Herz gefunden hatte. Jetzt gehörte sie ihm, dem Mörder seines Bruders. Er wollte nicht an sie denken, und doch schlich sie sich immer wieder in sein Herz und seine Erinnerung.
Der Gedanke an sie und die wenige Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war an manchen Tagen das Einzige, was ihn in seiner finsteren Zelle nicht den Verstand verlieren ließ. Wie glücklich war er nach dem Rennen im Hyde Park gewesen. Der Tag darauf war einer der schönsten und peinlichsten, die er mit Duncan in der Akademie verbracht hatte. Exerzieren und Drill standen auf dem Plan, und er hatte glorios versagt.
Liam sank auf sein dürftiges Strohlager, schloss die Augen und überließ sich den Erinnerungen.
Jener heiße Frühlingstag hatte es in sich gehabt. Unerbittlich brannte die Sonne vom Himmel. Die Pferde schwitzten und atmeten schwer. Ihren Reitern erging es in den wollenen Uniformen nicht besser. Liam wischte sich die Tropfen von der Stirn. Der Schweiß brannte in den Augen und klebte das Haar an den Kopf. Gerade war geschehen, was niemals hätte passieren dürfen.
Rittmeister Walsh brüllte ihn über den halben Exerzierplatz an, dass es Liam die Schamesröte ins Gesicht trieb.
» Fitzgerald, Sie sind eine Schande für die Krone. Das kann doch nicht wahr sein! Was ist denn heute mit Ihnen los? «
Liam parierte durch, riss
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