Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
seine Stute herum und sprang ab. Sein Säbel lag im Schlamm neben der Strohpuppe, die er eigentlich hätte durchbohren sollen. Zorn kochte in ihm hoch, als er die verächtlichen Blicke der anderen Kadetten spürte. Die Waffe verlieren, welch eine Schmach!
Liam schwang sich zurück in den Sattel und riss die Stute unsanft herum. Es war nicht fair, seine Wut an dem Tier auszulassen, doch was war schon fair. Er kehrte an seine Startposition zurück und fasste den verdreckten Säbelgriff fester.
» Na los, Fitzgerald. Wir warten alle nur auf Sie! Und machen Sie Ihrem Gaul Beine! «
Das war genug! Kein Wort mehr! Liam presste der Stute die Sporen in die Flanken. Das Tier preschte los, schoss in vollem Tempo auf die Strohpuppe zu, fast schon zu schnell, doch nicht für Liam. Eigentlich war es seine Königsdisziplin.
Der Spott des Rittmeisters hatte jeden Gedanken an den Morgen mit Johanna aus seinem Verstand getilgt. Diesmal zielte er sorgfältig.
Bis zum Heft bohrte sich der Säbel in die Puppe, genau dorthin, wo das Herz lag. Liam nutzte die geschwungene Form der Klinge, riss sie hoch und schlug noch einmal zu. Stroh wirbelte in einer blassgelben Wolke auf. Überall Staub. Die kopflose Puppe wurde noch ein Stück mitgeschleift und plumpste dann verrenkt zu Boden.
Als Liam schließlich vor Walsh durchparierte, nickte dieser knapp. » Na also, geht doch. «
Genau in diesem Moment schlug die Uhr der kleinen Kasernenkapelle zur vollen Stunde. Endlich. Der Drill war beendet. Sofort war Duncan an Liams Seite. Der jüngere der Fitzgerald-Brüder grinste verschmitzt und boxte den älteren in die Schulter. » He, was war denn mit dir los? «
» Nichts, kann doch mal passieren. «
» Jedem, aber nicht dir, Brüderchen. « Er ließ nicht locker. » Jetzt sag schon, spukt dir die blonde Amazone im Kopf herum, mit der du dir im Park ein Wettrennen geliefert hast? Ich hab euch am Montag gesehen. «
Liam dachte kurz an die wilde Galoppade zurück. Er hatte so getan, als ließe er Johanna gewinnen, die Wahrheit sah anders aus. Sie hätte ihn geschlagen, ihr Pferd war einfach schneller, und sie ritt verdammt gut. Johanna war wirklich besonders. Wild und freiheitsliebend, und das machte sie so viel interessanter als die hübschen, einfältigen Dinger, die ihm seine Mutter so gerne vorstellte.
Liam riss sich aus der Erinnerung los und sah Duncan tadelnd an.
» Sprich nicht über Angelegenheiten, von denen du nichts verstehst, kleiner Bruder. «
Duncan legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. Grübchen erschienen auf seinen Wangen. » Ich habe es gewusst, ich habe es gewusst! «
Sie ritten nebeneinander im Kreis über den Platz, um die verschwitzten Pferde zur Ruhe kommen zu lassen. Liam wischte sich Stroh und Staub von der Jacke.
Nach einer Weile nahm Duncan das Gespräch wieder auf.
» Willst du sie wiedersehen? « Der Schalk war aus seinem Blick verschwunden.
Liam nickte knapp.
» Gerne, ich weiß nur nicht… «
» Nein, darin bist du nicht gut, ich weiß. Schreib ihr einen Brief. Ich habe eine gute Freundin, die mir noch etwas schuldet. Sie wird euch sicher gern als Botin dienen. «
Ungläubig musterte Liam den Jüngeren. Duncan war schon immer ein Draufgänger und ein wagemutiger Liebhaber gewesen. Ganz anders als er. Als er merkte, wie ernst es Duncan mit seinem Angebot war, schlug er ihm freundschaftlich auf die Schulter.
» Danke, damit hast du wohl etwas gut bei mir. «
» Ich weiß auch schon was. Du stellst sie mir vor! Die Frau, die meinen Bruder aus der Fassung bringt, muss eine wahre Elfenkönigin sein. Wenn sie eine Schwester hat, will ich sie unbedingt kennenlernen. «
» Versprochen! «
Oktober 1845
Petre
V on ihrem Fenster aus hatte Johanna zugesehen, wie das Land erwachte. Erst war alles nebelig. Ein diffuses Grau, aus dem sich langsam blassgrüne Hügel schälten. Nach und nach hoben sich die Schleier, goldglänzend schwebten sie empor, bevor sie von der Sonne aufgelöst wurden.
Nun glänzten die Felder und die Dächer der Häuser vom Reif. In dem Spinnennetz vor ihrem Fenster hingen winzige Tropfen.
Nicht allzu weit entfernt ragte der Turm einer schlichten Kirche zwischen den Blockhäusern empor. Als schließlich die Glocke hell schlug und die Gläubigen zur Morgenandacht rief, erwachte auch Abigail aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen.
» Guten Morgen. Klingt fast wie daheim. «
Johanna riss sich von dem Ausblick los und trat ins Zimmer.
» Hast du
Weitere Kostenlose Bücher