Im Taumel der Herzen - Roman
Gepäck bereit zu machen und die beiden Kutschen herbeizuschaffen. Aber Julia war sicher, dass sie ohnehin nicht allzu viele dunkle Straßen entlangfahren würden. Bestimmt würde Richard bald ein Gasthaus ansteuern, wo sie die Nacht verbringen konnten, sobald sie weit genug von Willow Woods entfernt waren. Was er jedoch nicht tat. Er machte nur kurz halt, um Ohr und ein paar Männer der Eskorte aufzusammeln, die sich mit den Fahrern der beiden Kutschen abwechseln sollten, weil er am folgenden Tag vor Einbruch der Dunkelheit in London eintreffen wollte.
Obwohl sich der emotionale Aufruhr in ihr eher verschlimmert hatte, schlief Julia den Rest der Nacht. Sie war einfach zu müde, sodass sie selbst im Sitzen immer wieder wegnickte. Irgendwann beugte Richard sich zu ihr hinüber, um sie auf dem Sitz, den sie für sich allein hatte, in eine liegende, für sie
bequemere Position zu schieben. Julia bekam davon kaum etwas mit und schlief sofort wieder ein.
Um die Mittagszeit wachte sie schließlich auf. Sie fühlte sich durch den Schlaf zwar erfrischt, aber kein bisschen besser darauf vorbereitet, mit einem Ehemann umzugehen, der schrecklich wütend darüber war, ein Ehemann zu sein .
Als sie sich aufsetzte und den Schlaf aus den Augen rieb, reichte er ihr wortlos einen Korb voller Essen. Offenbar hatten sie irgendwo angehalten und eingekauft. Es sah nicht so aus, als hätte er selbst etwas davon gegessen, und geschlafen hatte er wohl auch nicht. Mit finsterer Miene starrte er zum Fenster hinaus. Hin und wieder zuckte an seiner Wange ein Muskel. Das Haar fiel ihm offen über die Schultern und wirkte noch genauso wild wie letzte Nacht, nachdem Julia es ihm im Bett zerzaust hatte. Gekleidet war er dagegen recht vornehm: Er trug eine schöne Jacke und eine locker gebundene Krawatte. Was für einen seltsamen Kontrast das lange Haar zu seiner feinen maßgeschneiderten Kleidung bildete! Er war halb Aristokrat, halb Abenteurer und sah dabei dennoch so gut aus, auch wenn er nun wieder jene alte Mauer der Wut zwischen sich und der Welt errichtete. Julia fragte sich bei seinem Anblick, was er all die Jahre wohl wirklich gemacht hatte. Was hatte ihn so unkonventionell werden lassen? Bisher hatte er ihr jedes Mal, wenn sie ihn danach fragte, irgendeine alberne, scherzhafte Antwort gegeben, die sie unmöglich für bare Münze nehmen konnte. Nun aber, nachdem sozusagen der Bund zwischen ihnen geschmiedet war, hatte sie ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.
»Du bist tatsächlich ein Pirat?«
Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, bereute sie ihre Worte auch schon. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Richard auf seine Vergangenheit anzusprechen. Sie hatten ja noch nicht einmal über die weitaus dringlichere Frage gesprochen,
was sie hinsichtlich ihrer Zukunft unternehmen sollten. Außerdem machte Richard ganz und gar nicht den Eindruck, als hätte er sich inzwischen beruhigt.
Ohne sie anzusehen, antwortete er: »Nein … mittlerweile nicht mehr.«
Julia hatte nicht damit gerechnet, dass er ihren Verdacht – wenn auch indirekt – bestätigen würde. »Aber du warst einer? «
»Ja.«
»Warum hast du denn nicht versucht, mich davon zu überzeugen? «
»Nachdem du die Vorstellung, ich könnte ein solches Leben geführt haben, so erheiternd gefunden hast?«
»Ein Leben als Pirat ?« Zu ihrer Verteidigung fügte sie hinzu: »Was ich so absurd fand, war gar nicht so sehr die Vorstellung, dass du einer sein könntest. Nein, ich habe einfach nicht geglaubt, dass es überhaupt noch Piraten gibt . Ist dir eigentlich bewusst, in welchem Jahrhundert wir leben?«
Richard starrte sie an. Ein halbes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. War es ihr gerade gelungen, die Mauer der Wut zu durchbrechen?
»Ich habe das Gefühl, du denkst da an blutrünstige Schurken, die ihren Opfern die Kehle durchschneiden. Du hast recht, die lebten in einem anderen Jahrhundert. Lass dir von meinem Kapitän erzählen, Nathan Brooks. Er ist Gabbys Vater und ein lieber, gutherziger Mann – der früher einmal Pirat war.«
Bald lauschte sie fasziniert seinen Erzählungen. Ihr entging nicht, wie seine Augen aufleuchteten, als er ihr von seinen Abenteuern an Bord der Crusty Jewel berichtete.
Sie erfuhr, wie er Ohr kennengelernt hatte und dann Nathan und den Rest seiner Mannschaft, und wie diese Männer sozusagen seine Familie geworden waren. Ja, sie hatten sich
selbst irgendwie als Piraten gesehen, aber auch als Schatzjäger.
»Das war immer Nathans
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