Im Taumel der Herzen - Roman
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Wieder empfand sie Mitleid mit ihm. Dabei hatte sie tatsächlich keine Ahnung, wie es sich anfühlte, verliebt zu sein. Schließlich war sie schon ihr ganzes Leben lang an diesen gottverdammten Verlobten gebunden, der alle anderen Männer in ihrem Bekanntenkreis auf Abstand hielt. Sie hatte noch nicht einmal einen Kuss bekommen. Wer hätte es wagen sollen, sie zu küssen, wenn sie längst einem anderen versprochen war? Nachdem er nun jedoch das Thema Küssen zur Sprache gebracht hatte, konnte sie den Blick kaum noch von seinen Lippen abwenden …
»Also schön, meinetwegen, aber machen Sie es kurz!«, erklärte sie und hoffte, dass sie es nicht bereuen würde. »Ich möchte nicht, dass irgendjemand außer James etwas davon mitbekommt.«
8
W äre es nicht ihr erster Kuss gewesen, hätte Julia niemals zugestimmt. Die Tatsache jedoch, dass sie mit ihren einundzwanzig Jahren noch keinen einzigen Kuss romantischer Art bekommen hatte, stellte einen mächtigen Anreiz dar. Dabei handelte es sich keinesfalls um oberflächliche Neugier, sondern um ein echtes, starkes Verlangen, endlich zu wissen, wie sich das anfühlte. Sie verspürte dieses Verlangen bereits, seit sie vierzehn Jahre alt gewesen war. Um diese Zeit hatten ihre Freundinnen ihre ersten Küsse bekommen und ihr erzählt, wie aufregend es war.
Eine weitere Flamme der Wut in dem Feuer der Unzufriedenheit, das ihre Verlobung ihr beschert hatte. So vieles war ihr dadurch entgangen, als sie heranwuchs. Die aufregende Zeit der ersten Ballsaison. Gott, ihre Freundinnen hatten ein ganzes Jahr über nichts anderes geredet und gekichert! Ganz zu schweigen von dem harmlosen, aber dennoch prickelnden Vergnügen des ersten Flirts, das sie alle noch vor ihrer ersten Saison erlebt hatten. Mit Ausnahme von Julia. Jedes Mal, wenn ihr bewusst wurde, wie viel sie seinetwegen verpasste, kam ein weiterer Grund hinzu, warum sie ihn vermutlich erschießen würde, falls er jemals zurückkehrte.
Was sie am allermeisten bedauerte, war aber wohl die Tatsache, dass sie noch nie geküsst worden war, nicht einmal ein einziges Mal. Dann hätte sie wenigstens gewusst, wie es sich
anfühlte. So aber blieb ihr jede Gelegenheit verwehrt, es herauszufinden. Dabei hätte es die leichteste Sache der Welt sein können, es ihren Freundinnen gleichzutun, schließlich hatte sie einen Verlobten. Bei ihrer letzten Begegnung aber war sie zehn gewesen und er fünfzehn, und sie hatten sich bei dieser Gelegenheit beide geschworen, einander umzubringen, falls sie sich noch einmal nahe genug kämen. Dabei hatte es sich keineswegs um leere Drohungen gehandelt. Sie hassten einander derart, dass jedes ihrer Treffen mit irgendeiner Form von gewalttätiger Auseinandersetzung endete. Danach hatten sie weitere gegenseitige Besuche vermieden, und zwei Jahre später war er dankenswerterweise verschwunden, sodass sie seinen Anblick nicht mehr ertragen musste.
Nichtsdestoweniger wäre es schön gewesen, wenn sie ein, zwei Küsse als Vergleichsbasis gehabt hätte, denn dann hätte ihr das, was nun passierte, nicht derart den Boden unter den Füßen weggezogen.
Kaum hatte sie zugestimmt, legte er auch schon los. Er brauchte dazu nicht einmal seine Halbmaske abzunehmen, da nichts seinen sinnlichen Mund daran hinderte, zu dem ihren vorzudringen. Für einen Moment empfand sie einen Anflug von Enttäuschung, weil sie den Rest seines Gesichts nicht zu sehen bekommen würde. Ein Paar grüne Augen waren das Einzige, was sie sah, ehe sie ihrerseits die Augen schloss, um die völlig neue Erfahrung, auf ihren Lippen den fordernden Mund eines Mannes zu spüren, besser genießen zu können.
Sie übertraf all ihre Erwartungen. Dass er ein Fremder war, machte es vielleicht noch ein bisschen aufregender, und auch die Tatsache, dass sie nicht einmal wusste, wie er aussah, trug wahrscheinlich dazu bei. Dadurch konnte sie sich hinter seiner Maske vorstellen, wen sie wollte, den gutaussehendsten Mann, der ihr in den Sinn kam – am besten ein Duplikat von Jeremy Malory, denn der war wohl der schönste Mann, der
ihr je begegnet war, wenn auch leider schon vergeben … oder sein Onkel Anthony … oder nein, da war ja auch noch sein Cousin Derek, oh verdammt, lieber nicht, denn sie waren alle bereits verheiratet! Außerdem spielte es ohnehin nicht wirklich eine Rolle, wie er aussah. Was zählte, war dieser glorreiche Moment, in dem sie endlich erlebte, worauf sie so lange gewartet hatte.
Sie fand allerdings, dass er keineswegs wie ein
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