Im Taumel der Herzen - Roman
bereits beträchtlich, als es längst noch nicht Zeit war, die Masken abzunehmen, auch wenn viele Gäste tatsächlich bis kurz vor zwölf warteten, ehe sie gingen. Doch schon vorher hatte die Anzahl der Besucher so weit abgenommen, dass sich immer mehr Paare auf die Tanzfläche wagten und auch Julia nicht mehr Nein sagte, als sie das nächste Mal aufgefordert wurde. Es ergab sich sogar die Gelegenheit zu einem kleinen Flirt mit einem anderen jungen Mann, der ihre Umstände noch nicht kannte, aber da sie zu diesem Zeitpunkt kein Interesse mehr daran hatte, gestand sie ihm sogar, verlobt zu sein, was seinen Bemühungen ein jähes Ende setzte. Sie wusste selbst nicht so recht, warum sie das tat. Sie wusste nur, dass von der ganzen Fröhlichkeit, die sie zu Beginn des Abends verspürt hatte, nichts mehr übrig war.
Auch im weiteren Verlauf des Abends besserte ihre Stimmung sich nicht – ganz im Gegenteil: Am Ende wurde sie fast so melancholisch wie Jean Paul. Deswegen war Julia froh, als es schließlich Zeit war, nach Hause zu gehen. Während sie an diesem Abend in ihr Bett kroch, wurde ihr die Ironie ihrer Situation so richtig bewusst. Immerhin stand sie gerade kurz davor, die alten Fesseln abzuschütteln und sich endlich nach einem Ehemann umzusehen, sich endlich auf den Heiratsmarkt zu begeben, wie die feine Gesellschaft es so schön ausdrückte. Eigentlich hätte das die aufregendste Zeit ihres Lebens sein sollen, und war es auch gewesen – bis zu diesem Abend. Bis sie von Gefühlen überrollt worden war, wie sie es noch nie erlebt hatte. Vielleicht war es das, was ihr so zu schaffen machte: Sie hatte sich immer vorgestellt, dass es sich genau so anfühlen würde, wenn sie ihren Traummann traf. Warum sonst konnte
sie nach nur einer Begegnung an nichts anderes mehr denken als an ihn? Ihre Niedergeschlagenheit rührte von der Erkenntnis, dass es keine weiteren Begegnungen mehr geben würde.
Sie war einfach davonmarschiert, ohne ihn wissen zu lassen, wo er sie finden konnte – wenn er es denn wollte. Hinzu kam, dass er Franzose war. Niemand dort kannte ihn. Zumindest kannte Carol ihn nicht, sodass er vermutlich auch sonst niemandem bekannt war. Eigentlich hätte er an dem Abend gar nicht dort sein dürfen. Sie hatte also auch keine Möglichkeit, ihn zu finden, selbst wenn sie wollte. Wollte sie? Zwei Personen gab es allerdings, die wussten, wer er war. Die eine liebte er, und die andere trachtete ihm deswegen nach dem Leben. Ausgerechnet diese beiden zu fragen wäre jedoch äußerst geschmacklos. Oder nicht?
10
W as zum Teufel …?«
Dies waren Ohrs Worte, während er dem Hotelpagen zu Hilfe eilte, der sich gerade abmühte, Richard in ihr Zimmer zu zerren. Dass plötzlich die Tür aufgeflogen war, hatte Ohr nicht erschreckt, Richards Anblick dagegen schon. Der junge Mann, der wahrscheinlich eher noch ein Junge war als ein Mann, hatte sichtlich Schwierigkeiten mit dem Gewicht von Richards weitgehend leblosem Körper.
»Ich habe ihn draußen vor dem Hotel am Randstein gefunden«, erklärte der junge Mann, während Ohr ihm seine Last abnahm und Richard problemlos auf sein Bett hievte.
»Der Kutscher wollte mir nicht weiter helfen«, murmelte Richard, »er war sehr wütend, weil ich seine ganzen Sitze vollgeblutet hatte.«
Stirnrunzelnd warf Ohr dem Jungen zum Dank für seine Hilfe eine Münze zu und schloss dann die Tür hinter ihm. Ehe er wieder ans Bett trat, zündete er eine weitere Lampe an.
Für einen Moment herrschte Totenstille, was Richard zu der Frage veranlasste: »So schlimm?«
»Wer hat dich überfahren?« Mehr sagte Ohr dazu nicht.
Richard lag zusammengerollt auf der Seite und hielt sich die Rippen. Er hatte keine Ahnung, wie viele gebrochen waren, aber es mussten eine Menge sein, denn jeder Atemzug tat ihm höllisch weh. Dennoch hatte er wahrscheinlich Glück, noch
am Leben zu sein. Dabei war ihm die Flucht beinahe gelungen! Er wollte gerade die Mauer hochspringen, über die er geklettert war, um sich Zutritt zu dem Ball zu verschaffen, als ihn eine Hand herumriss und eine Faust in seinem Magen landete.
Zusammengekrümmt hatte er gefragt: »Warum tun Sie das?«
»Da fragen Sie noch?«
Er hatte nicht mitbekommen, wer den Treffer gelandet hatte. Was aber keineswegs hieß, dass er es nicht ohnehin wusste. Die trockene Stimme bestätigte es ihm nur. Seit er damals über jene andere Mauer gesprungen war, die Gartenmauer von Georgina – nachdem sie ihn geohrfeigt hatte und er, als er sich
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