Im Taumel der Sehnsucht
hatte, als sie und Charity von ihrem Ausritt zurückgekehrt waren. Alle Familienmitglieder hatten sich versammelt, um mit ernsten Mienen auf die beiden Mädchen zu warten.
Charitys Mama hatte geweint und geschluchzt und immer wieder beteuert, daß ihr Caroline wie eine eigene Tochter war. Hatte sie sie nicht aufgezogen, seit sie als Vierjährige nach Boston gekommen war? Und nannte Caroline sie nicht auch ihre Mama? Charitys Vater war ein wenig beherrschter gewesen und hatte Caroline sehr nüchtern erklärt, daß sie nach England zurückkehren müsse.
»Glaubst du, er wäre dich wirklich holen gekommen, wie er es in dem Brief angedroht hat?« fragte Charity.
»Ja«, antwortete Caroline seufzend. »Uns sind einfach die Ausreden ausgegangen«, fügte sie hinzu. »Mein Vater muß mich für entsetzlich anfällig halten. Du weißt doch, daß deine Mutter ihm jedesmal, wenn er meine Rückkehr gefordert hat, einen Brief geschickt hat, in dem sie erklärte, daß ich mir mal wieder irgendeine Krankheit zugezogen habe. Ich glaube, die einzige Seuche, die sie mir noch nicht zugeschrieben hat, ist die Pest, und das auch nur, weil sie nicht daran gedacht hat.«
»Aber er hat doch vorher auch eine Ewigkeit nichts von dir wissen wollen. Er hat dich immerhin zu uns gegeben!«
»Es war aber nur als vorübergehendes Arrangement gedacht«, erwiderte Caroline. »Ich weiß nicht genau, was damals geschehen ist, aber mein Vater war offenbar nicht in der Lage, sich um mich zu kümmern, nachdem meine Mutter gestorben war, und -«
»Er ist ein Earl!« unterbrach Charity sie. »Und als solcher wäre er ja wohl in der Lage gewesen, jemanden einzustellen, der auf dich aufpaßt. Und was soll das, daß er dich jetzt, nach so langer Zeit, auf einmal bei sich haben will? Das ergibt überhaupt keinen Sinn, und du weißt es.«
»Ich brauche nur ein bißchen Zeit. Irgendwann werde ich schon herausbekommen, aus welchen Gründen er so gehandelt hat.«
»Caroline, kannst du dich an irgend etwas von früher erinnern? Meine früheste Erinnerung habe ich daran, wie ich mit sechs von Brewsters Heuboden geplumpst bin.«
»Nein, ich kann mich erst an die Zeit in Boston erinnern«, antwortete Caroline. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog und wünschte sich, sie hätte diese Unterhaltung einfach abbrechen können.
»Also, weißt du, ich begreife einfach nicht, wieso du den Mann nicht haßt! Jetzt sieh mich nicht so an. Ich weiß, daß man nicht hassen soll, aber dein Papa wollte dich ja damals ganz offensichtlich nicht mehr bei sich haben. Und nun, nach vierzehn Jahren, ändert er einfach mal eben seine Meinung! Kümmert er sich denn gar nicht darum, was du empfindest?«
»Ich glaube fest daran, daß mein Vater damals getan hat, was er für das Beste hielt«, gab Caroline zurück.
»Caimen war entsetzlich wütend, daß du abgereist bist«, bemerkte Charity mit gewisser Befriedigung. Ihr ältester Bruder war in der Tat überaus aufgebracht gewesen.
»Ich finde zwar nicht, daß Caimen ein Recht hat, sich aufzuregen, aber vielleicht muß ich es ihm einfach zugestehen. Ich schulde deinen Eltern und deinen Brüdern sehr, sehr viel, und das darf ich nie vergessen«, sagte Caroline mit fester Stimme. Es klang fast wie ein Schwur. »Charity, ich kann meinen Vater nicht hassen. Wut und Haß sind zerstörerische Gefühle. Und die Tatsachen kann man damit ohnehin nicht ändern.«
Charity schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Ich begreife dich nicht. Wie kannst du nur alles einfach hinnehmen? Das ist überhaupt nicht deine Art. Immer hast du irgendeinen Plan. Sag mir, was du vorhast. Da ist bestimmt etwas ... Du handelst, du gluckst nicht einfach herum.«
»Herumglucken?« Caroline kicherte.
»Na ja, du weißt, was ich meine. Du sitzt nicht einfach da und wartest ab, sondern du nimmst die Dinge selbst in Angriff.«
»Nun, ich habe mir gedacht, daß ich ein Jahr bei meinem Vater verbringe. Das schulde ich ihm. Ich werde mir auch Mühe geben, ihn zu mögen. Dann komme ich wieder nach Boston zurück.«
»Und was, wenn dein Vater dich nicht läßt?« Charity begann erneut, ihre Handschuhe zu zwirbeln und zu verdrehen, und Caroline beeilte sich, sie zu beruhigen.
»Ich bin sicher, daß er mich gehen läßt, wenn ich mich hier wirklich nicht wohl fühle. Nun komm, Charity, mach nicht so ein ängstliches Gesicht. Das ist meine einzige Hoffnung. Bitte nimm sie mir nicht!«
»Ich kann aber nicht anders. Himmel, er könnte dich unter die Haube bringen,
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