Im Tempel des Regengottes
kostümiert hast, war allerdings eine kleine Überraschung.« Sie bedachte Helens malerische Kleidung mit einem nachsichtigen Lächeln, wie die Maskerade eines kleinen Kindes. »Aber was siehst du mich so an, Schwester? Du hast doch sicher längst erraten, wer ich bin und wie wir zueinander stehen?«
Helen nickte zaghaft. Warum nur ist mir so traurig zumute? dachte sie. »Du bist... warst das Mädchen«, sagte sie leise, »das mich damals mit seiner Mutter nach Fort George gebracht hat.«
Abermals lächelte die India, und wieder war es, wie wenn die Sonne für einen Moment durch dunkle Wolken bricht. »Mein Name ist Ixnaay, und ich bin wahrhaftig das Kind, das damals mitgeholfen hat, dich zu deinem Vater zu bringen. Ixpaloc, deine Mutter, starb wie alle anderen im Dorf: mit durchgeschnittener Kehle. Niemand außer uns dreien hat das Massaker überlebt, mit dem Ixt'u'ulchac ausgelöscht wurde.«
Helen faßte sich unwillkürlich an den Hals, wo Sergeant Chillhoods Seil blutige Striemen hinterlassen hatte. Noch immer schmerzte sie jeder Atemzug, jede Bewegung ihrer Kehle, die sich unter den Worten Ixnaays krampfhaft zusammenzog.
Schweigend sahen sie einander an, auf dem schlammigen Waldboden kauernd, und Helen spürte die Schwermut und den Zorn, die Ixnaay wie eine Rüstung umgaben. Was war es für ein Geheimnis, an dem die India so schwer zu tra gen schien? Warum hatten sie oder ihre Mutter niemals versucht, sie, Helen, aus dem Gespinst der Lügen und Verdrehungen zu befreien, mit dem Mr. Sutherland sie so sorgsam umwoben hatte? Gehörten etwa auch sie der Verschwörung des Täuschens und Verschweigens an? Aber aus welchem Grund? Weil sie als Erpresserinnen ein Interesse daran hatten, daß Mr. Sutherland seinen Lügen und Täuschungen treu blieb?
Dieser ganze Sturmwind von Fragen jagte Helen durch den Kopf, während sie und Ixnaay einander mit Blicken maßen. Einzelne verirrte Sonnenstrahlen fingerten durch das Halbdunkel zwischen den Felswänden. Mücken sirrten über Schlamm und Pfützen, sonst war es ganz still im nachmittäglichen Wald. Gewiß war es klüger, sagte sie sich endlich, erst einmal anzuhören, was d ie Ältere ihr erzählen würde. Aber dann hielt sie es doch nicht länger aus und platzte mit den Fragen heraus, die ihr am ärgsten auf der Zunge brannten.
»Ich werde dir und deiner Mutter immer dankbar sein«, begann sie, »daß ihr mich vor dem sicheren Tod gerettet und in ein Haus gebracht habt, in dem man, wie ihr voraussetzen durftet, für das hilflose kleine Kind sorgen würde, das ich damals war. Aber sag doch, bitte«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort, »weshalb hast du dich an jenem Abend im letzten April mit Mr. Sutherland getroffen? Und wenn ihr mit ihm in Verbindung standet, warum habt du oder deine Mutter mir in all den Jahren niemals ein Lebenszeichen gegeben? Und wie kommt es schließlich, daß du gerade heute im rechten Moment zur Stelle warst, um mich vor dem rasenden Sergeant Chillhood zu retten?«
Dieses Mal wollte die Düsterkeit nicht mehr von Ixnaays Zügen weichen, wie sehr sich die India auch um eine heitere Miene bemühte. »Das sind viele Fragen«, sagte sie, und auch ihre Stimme klang auf einmal müde. »Um sie auch nur annähernd zu beantworten, brauchten wir den restlichen Tag und die Nacht dazu. Aber ich muß weiter, Helen - warum und wohin, auch darüber darf ich dir nichts sagen. Oder nur soviel: Ich wäre auf diesem Weg ohnehin heute gen Westen geeilt. Daß ich dich unterwegs traf, und zur rechten Zeit, um dich aus einer gefährlichen Lage zu befreien - nenne es Zufall oder das Walten der übernatürlichen Mächte. In unserer Kindheit pflegten die Priesterinnen zu sagen: Wer einen Menschen zweimal aus Todesgefahr gerettet hat, steht unter dem besonderen Schutz der Götter.« Ihre Miene war nun so starr wie aus Stein gehauen.
»Und den kann ich brauchen, glaub mir.«
Helens Gedanken wirbelten noch immer durcheinander, ein furchtbarer Verdacht war in ihr aufgestiegen, nicht zum ersten Mal, aber drängender denn je. Konnte es sein, daß Mr. Sutherland selbst das Blutbad von Ixt'u'ulchac befohlen hatte, um alle Zeugen und Früchte seiner »Verirrung in der Wildnis« auszulöschen? Hast du jemals erfahren, wollte sie fragen, wer die Menschen in eurem - unserem - Dorf umgebracht hat? Aber während sie noch überlegte, wie sie die Frage vorbringen könnte, erhob sich Ixnaay, faßte Helen bei der Hand und zog sie mit sich hoch.
»Kannst du klettern, Helen? Dort vorne,
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