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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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zunächst einen solchen Schrecken eingeflößt, daß sie am liebsten die Flucht ergriffen hätte.
    Aber wohin fliehen? Sie befand sich, laut Ixnaay, beim »Heiligtum des Chilam Balam«, in der Obhut seiner Jaguarpriesterinnen, die für ihre Sicherheit und ihr leibliches Wohl sorgen würden, solange Mr. Thompson sich im Innern des Jaguartempels aufhielt. Die beiden Jaguarfrauen brachten ihnen ein einfaches, schmackhaftes Mahl, schwarze Bohnen, vermengt mit Reis und Kokosraspeln, und nachdem Ixnaay mit ihr gegessen hatte, war sie eilends wieder aufgebrochen, obwohl der Tag sich bereits neigte. »Wir werden uns wiedersehen, Helen.« Eine flüchtige Umarmung, dann war sie verschwunden wie ein Spuk.
    Die Jaguarfrauen hatten ihr geholfen, Henry O'Roone ys Hemd und Beinkleider abzustreifen. Eine milchig leuchtende, beinahe bleiche Gestalt zwischen den gescheckten Raubtierleibern, war sie zu einer Quelle hinter der Hütte geleitet worden und bereitwillig in die Mulde lauen Wassers geglitten. Unter fortwährendem Summen und Singen hatten die beiden sie sodann zu dieser Bank geführt, wo sie seither auf ihrem Bauch lag und ihren Körper den Händen und Essenzen der Priesterinnen überließ.
    Auch ihre Seele begann sich zu entspannen, und die Verdüsterung, die sie in Ixnaays Nähe ergriffen hatte, löste sich nach und nach wie Abendnebel auf.
    Schließlich geleiteten die Jaguarpriesterinnen sie in die Hütte, streiften ihr eine Tunika über und betteten sie in eine Hängematte, doch Helen nahm es kaum mehr mit Bewußtsein wahr. Sie lag bereits in tiefem Schlaf, ehe die beiden ihre Hütte verlassen hatten, mit Henrys Kleidungsstücken, deren Nähten und Knopfleisten der rasende Chillhood übel mitgespielt hatte.
    Im Traum trug Helen weder Tunika noch Burschenhosen, sondern ein Abendkleid mit kurzer Schleppe nach allerneuestem Londoner Schick. Zu ihrem Entzücken war sie zur vornehmsten Abendveranstaltung von ganz Fort George eingeladen worden, zum Ball des Gouverneurs, der einmal jährlich, am Geburtstag der Königin, im großen Audienzsaal von White House stattfand.
    In ihrem Empiregewand aus schattierender cognacfarbener Seide sah sie wahrhaftig wie ein britisches Edelfräulein aus, und als sie die Treppe von Sutherland House hinabschritt und in den Innenhof trat, durchströmte sie die Gewißheit, daß ihre Schönheit die glanzvollsten Damen von Fort George
    überstrahlen würde. Nie zuvor hatte sie sich derart mit sich im reinen gefühlt, gelassen, selbstsicher, von innen heraus leuchtend, denn nie zuvor war sie so stark und leidenschaftlich geliebt worden.
    Um welchen Gentleman es sich bei diesem herrlichen Liebhaber handelte, das allerdings stand Miss Helen, die sich von dem livrierten Kutscher anmutig in die Kutsche helfen ließ, nicht ganz so deutlich vor Augen, wie sie selbst es sich gewünscht hätte. Auf ihre Bitte hin hatte Mama Doro ihre Haare zu einem glatten, hohen Schopf mit kunstvollem Lockenchignon frisiert, und als sie nun ihr Konterfei im Kutschfenster begutachtete, glänzten ihre Haare in seidigem Blond, das vorzüglich mit ihrem mondbleichen Teint harmonierte.
    Die Kutsche fuhr an, und Helen lehnte sich in die Polster zurück und sagte sich, daß es im Grunde außer Zweifel stand, wer der Galan war, der sie vor dem Portal von White House erwarten würde. Dennoch blieb der Stachel der Ungewißhe it in ihrem Innern bestehen, und er drehte sich immer schneller und bohrte sich immer tiefer in ihre Seele, je rascher die Kutsche durch die abendlichen Straßen von Fort George ratterte, über die Swing Bridge und durch die Albert Street bis hinunter zum Park des Gouverneurs.
    Schon von weitem hörte sie die festliche Musik, die aus den offenen Fenstern und Türen von White House schallte, vermischt mit dem hellen Gelächter der Damen, den näselnden Stimmen der Gent lemen und dem köstlichen Klirren kristallener Kelche. Das königliche Kammerorchester von Britisch-Honduras hatte eine romantische Weise angestimmt, und Helen wunderte sich ein wenig, als die perlenden Klänge auf einmal von einem wilden Pfeifen, Schnalzen und Tirilieren übertönt wurden, als ob sich dort drinnen, unter den majestätischen Lüstern, die hunderttausend Vögel des Urwalds versammelt hätten.
    Ihre Kutsche hielt vor dem Portal, in einem unabsehbaren Strom von Landauern und herrschaftlichen Gefährten wie dem ihren. Ein hochgewachsener Herr mit silbernen Schläfen hielt ihr den Schlag auf und bot ihr seinen Arm. Es war der Gouverneur

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