Im Tempel des Regengottes
Quieken. Er ließ Helen los und fuchtelte mit den Händen, bekam das Seil zu fassen und zog die Schlinge um ihren Hals so gewaltsam zusammen, daß ihr schwarz vor Augen wurde. Sie versuchte die Schlinge zu packen, ihre Finger darunterzuzwängen, aber vergeblich, zu tief schnitt das Seil in ihr Fleisch. Gleißende Lichter begannen um sie herumzuwirbeln, und zugleich hörte sie ein lautes Fauchen und Knurren, wie von Raubkatzen ganz in ihrer Nähe, auf den Bäumen, im Buschwerk ringsum. Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie bäuchlings am Boden lag, in Laub und Schlamm gebettet, während um sie herum immer lauter jenes Fauchen erschallte. Jaguare, dachte sie, deshalb also hatte Muller so ängstlich »Dickie, Dickie« gerufen, und deshalb schrien beide Sergeants noch immer, während ihre Stimmen und stampfenden Schritte sich rasch und rascher entfernten, den Wurzelpfad zurück, unter Schreien und Fluchen, verfolgt vom Fauchen der Jaguare, vom Trommeln ihrer Tatzen und sogar von ihrem strengen Tiergeruch, der gleichfalls schwächer und schwächer wurde.
Verwundert richtete sie sich auf und sah um sich. Ihr Hals schmerzte bei jedem Atemzug, doch als sie nach der Schlinge tasten wollte, war das Seil verschwunden. Wie war das alles nur möglich? Der Angriff der Raubkatzen, die Flucht der beiden Soldaten - und wieso hatten die Jaguare sie selbst verschont, obwohl sie nicht einmal versucht hatte zu fliehen?
Ganz ruhig war es nun in der Schlucht, so still und friedlich, als ob sie dies alles nur geträumt hätte: die schreienden Sergeants, die fauchenden Jaguare, ja als ob sie noch immer von einem Traum umfangen wäre, vom Traum der Wildnis, und gleich in ihrer Kammer erwachen würde, unter der Dachschräge von Sutherland House.
Aber es war kein Traum.
Aus dem Dickicht zu ihrer Linken trat eine junge India hervor, schlank, von auffällig großgewachsener Gestalt. In einer Hand hielt sie das Seil, das Sergeant Chillhood um den Hals des Affenburschen Henry geworfen hatte, in der anderen einen funkelnd schwarzen Dolch. So kunstvoll sie ihre Haare zu einer Art Vogelnest geflochten trug, so einfach war sie gekleidet, mit einem weißen, nur an den Säumen verzierten Umhang, der ihre kakaobraunen Schultern ebenso wie die kräftigen Unterschenkel
unbedeckt ließ.
»Saquarik nan, Ixkatik«, sagte die India in melodischem Quiché, und Helen fragte sich, mit wem diese junge Frau sie verwechseln mochte und, noch weit erstaunter, an wen sie selbst sich durch die klangvolle Stimme erinnert fühlte. »Keine Sorge«, fuhr die India fort, indem sie unversehens in ein geschmeidiges Englisch wechselte, »mein Zauber hat den beiden einen gewaltigen Schrecken eingejagt freiwillig kommen die nicht zurück.«
Zauber? dachte Helen. Und wie ist es möglich, daß sie genau dieselbe Stimme hat, die ich an jenem Aprilabend im Patio von Sutherland House hörte? Wortlos staunte sie die um wenige Jahre Ältere an, wie eine Spukgestalt aus einem wirren Fiebertraum. Nein, ich muß mich irren, dachte sie, unmöglich können mir auf Schritt und Tritt Personen, die ich aus Fort George kenne, hier draußen im unwegsamen Urwald begegnen - erst Sergeant Muller, nun die geheimnisvolle Besucherin aus Sutherland House.
Mit einem Lächeln wie aus ältesten Erinnerungen kauerte sich die India neben ihr nieder. »Ich nehme an, daß es dir lieber ist, Helen, wenn wir englisch miteinander reden?«
4
»Laß es mich kurz machen, obwohl ich, glaub mir, viel lieber mit dir in Erinnerungen schwelgen würde.« Die India hatte sich neben Helen in die Hocke niedergelassen, auf ihren Unterschenkeln kauernd, und spielte zerstreut mit Chillhoods Schlinge in ihrem Schoß. »Aber dafür ist leider keine Zeit. Ich bin sehr in Eile.«
Ein Schatten ging über ihr Gesicht, mit sichtbarer Mühe schüttelte sie die Verdüsterung ab und sah Helen aufs neue lächelnd an. »Du bist ein kluges Mädchen, Helen. Sutherland hat uns alles berichtet, bevor er Hals über Kopf nach Europa abgedampft ist. Ich dachte mir gleich, daß du versuchen würdest, dich bei erster Gelegenheit nach Westen durchzuschlagen, um das Dorf deiner Herkunft zu besuchen - oder die Trümmer, die von Ixt'u'ulchac übriggeblieben sind. Und als du nach der Schießerei im Park des Gouverneurs tatsächlich verschwunden warst, lag es auf der Hand, daß du dich Robert Thompson und seinen Schatzsuchern angeschlossen hattest, um unter ihrem Schutz gen Westen zu reisen. Daß du dich als Pferdebursche
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