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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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am Ende der Schlucht, führt ein Schacht im Fels hinauf. Wenn wir oben angekommen sind, liegt Chul Ja' Mukal - das Dorf des Regengottes - schon hinter uns. Und bevor der Abend dämmert, ist Henry O'Rooney wieder bei seinem Herrn.«
    Abermals nickte Helen zaghaft. Hundert Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, auf die ihr Ixnaay nicht eine Antwort geben würde: Also waren Robert Thompson und seine Gefährten den Indios entkommen? Woher wußte Ixnaay, wo er sich jetzt befand? Wohin würde sie selbst anschließend weitereilen? Und vor allem: Welche Verbindung bestand zwischen Ixnaay und Robert Thompson? Kannten sie einander, hatten die Augen der India nicht vorhin aufgeblitzt, als sie seinen Namen erwähnte?
    »Fragst du dich gar nicht, wie ich die beiden Sergeants in die Flucht geschlagen habe?« Die Ältere, um einen Kopf Größere hatte sich das Seil über die Schulter geworfen und den Dolch in ihren Gürtel geschoben. Nun hakte sie Helen unter und zog sie mit sich fort, tiefer in die Schlucht hinein.
    Ixnaays plötzliche Munterkeit klang entschieden unecht, fand Helen, gleichwohl ließ sie sich bereitwillig von ihr mitziehen, fort von ihren eigenen düsteren Gedanken. »Der Jaguarzauber«, sagte sie, »ja, das habe ich mich auch schon gefragt, wir ihr so etwas anstellt.«
    »Ihr?« wiederholte Ixnaay. »Du meinst - ihr Indios aus dem Wald?«
    Darauf wußte Helen nichts zu erwidern. Ohnehin hatte sie Mühe, mit Ixnaay mitzuhalten, deren lange, kräftige Beine sie mit federnden Schritten voranbewegten. »Am Sonntag, als im Park von White House die Schüsse fielen«, sagte sie atemlos,
    »hat der alte Indio auch so einen Zauber veranstaltet – keine Jaguare, aber einen Schwarm goldener Fliegen, die auf einmal zwischen seinen Händen hervorstoben.«
    Ixnaay lachte leise auf. »Fliegen - das ist leicht. Ein gewisses Pulver, durch Reiben der Hände erhitzt - und eine Prise Leichtgläubigkeit...« Sie verfiel abermals in Schweigen und beschleunigte ihre Schritte nun so sehr, daß an keinerlei Gespräche mehr zu denken war.
    Nachdem sie einige tausend Fuß beinahe rennend zurückgelegt hatte, blieb die India auf einmal stehen. »Da vorn ist der Einstieg in den Berg. Still jetzt, zwischen den Felsen ist jeder Laut meilenweit zu hören.« Sie legte einen Finger auf den Mund und sah Helen beschwörend an, dann trat sie unter einen vorhängenden Felsen und verschwand im Berg.
    Helen folgte ihr zögernd. Wie kühl es hier drinnen war, und so finster wie in schwarzer Nacht. Der Felsschacht führte lotrecht aufwärts, ein roh behauener Tunnel mit schmalen, schlüpfrigen Stufen und so eng, daß sie bei jedem Schritt mit Schultern und Rücken gegen die Wände stieß.
    Der Aufstieg dauerte kaum eine halbe Stunde, und er fiel Helen nicht einmal sonderlich schwer. Ihre Gedanken waren bei Ixpaloc und bei Mr. Sutherland. Niemals, nicht einmal an jenem Morgen in seiner Bibliothek, hatte sie sich einsamer, verratener gefühlt als in diesem steinernen Tunnel, auf den Spuren Ixnaays, ihrer unnahbaren Retterin.
    Das Leitmotiv meines Lebens, dachte Helen Harmess, verraten und verloren, nicht Milch und nicht Kakao.

5
     
     
    Flammend rot ging die Sonne unter, und das himmlische Feuer spiegelte sich in dem Seerosenteich, auf den Helen von der kleinen Veranda vor ihrer Hütte aus hinabsah. Sie lag der Länge nach auf einer Holzbank, die zu ihrer Bequemlichkeit mit geflochtenen Matten bedeckt worden war. Seit wenigstens einer halben Stunde kneteten die beiden Jaguarfrauen ihren Körper und verrieben duftende Essenzen auf ihrer Haut. Die eine Jaguarin machte sich an Schultern und Rücken zu schaffen, die zweite arbeitete sich weiter abwärts, Helens schmerzenden Waden entgegen. Dazu summten sie unablässig eine eintönige Melodie, ähnlich dem Summgesang aus ihrem Traum.
    Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sich Helen auch nur annähernd so müde gefühlt, erschöpft und zugleich angenehm entspannt. Schläfrig blinzelte sie auf die weite Lichtung hinaus, in deren Mitte der Seerosenteich leuchtete. Zwischen ihrer Hütte und der Lichtung stand eine Reihe Weiden mit tiefhängenden Ästen, die sie vor unziemlichen Blicken verbargen. Dennoch hatte sie sich anfangs geweigert, sich vor den Jaguarfrauen ihrer Kleidungsstücke zu entledigen, wie Ixnaay es ihr geraten hatte. Daß auch diese beiden jungen Frauen, die in ihrem Alter sein mochten oder sogar ein wenig jünger, am ganzen Leib nichts weiter als das aufgemalte Jaguarmuster trugen, hatte ihr

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