Im Tempel des Regengottes
Eröffnungen auch klangen, die der alte Priester in bellendem Tonfall hervorstieß, in diesem Moment schienen sie Robert zwar wundersam, aber durchaus nicht unglaubwürdig. Was Ja'much ihm da erzählte, klang für ihn wie Nachrichten aus einer Welt, in der andere als die sattsam bekannten Gesetze herrschten, einer Welt allerdings, von der er immer schon geahnt und gehofft hatte, daß es auch sie in Wirklichkeit gab, ja daß es die wahrere, tiefere Wirklichkeit wäre, verborgen unter der trügerischen Hülle von Konventionen und trockener Rationalität.
»Schon indem du diese Mathematik der Götter aus dem Verborgenen hervorzerrtest«, fuhr der alte Priester fort, »gingst du über deine Mission als Ajb'isäj-ju'um d'ojis zumindest hinaus. Zum Frevler aber wurdest du und unsägliche Schuld ludest du auf dich, indem du den Canek und die obersten Priester von Tayasal glauben machtest, daß die Götter ihnen nicht länger geboten, eine neue Stadt zu errichten, daß sie also ruhig in der alten Stadt bleiben könnten, obwohl ein neues Zeitalter begann. Durch diesen Frevel, Götterbote, durch diese lügnerische Verdrehung deines Auftrags, die jene Ixkukul dir eingeflüstert hatte, wurde der Zorn der Götter entfesselt, und die alte Prophezeiung erfüllte sich: Da die Maya von Tayasal beschlossen, das kosmische Gesetz zu mißachten und keine neue Stadt zu errichten, wurde unsere gesamte Welt ins Verderben gerissen. Die fahlhäutigen Invasoren überrannten unser Reich, schleiften unsere Tempel und Paläste, verbrannten unsere Bücher und raubten unsere Schätze, erschlugen unsere Krieger, folterten unsere Priester und schändeten unsere Frauen und Kinder, alles durch deine Schuld.«
Während dieser langen Rede Ja'muchs hatte der Regen allmählich nachgelassen, gleichwohl steigerte der alle Priester seine Stimme immer noch weiter, zu einem heiseren Brüllen, mit dem er schließlich ausrief:
»Seit damals, Ajb'isäj-ju'um d'ojis, seit mehr als hundertachtzig Jahren seit deinem furchtbaren Versagen leben wir in Schmach und Trauer, verhöhnt und geknechtet, im Wald wie die wilden Tiere, in den Ruinen unserer Ahnen oder unter der Erde verborgen, wie in Kantunmak. Aber wir haben niemals die Prophezeiung vergessen, daß du wiederkehren würdest, um deine Schuld zu tilgen, und seit langem ist alles sorgsam vorbereitet für diesen Tag. Du wirst das gewaltigste Heer anführen, mit dem wir jemals in eine Schlacht gezogen sind, und dieses Heer wird die bleichen Eindringlinge vernichten, und die wenigen Überlebenden werden mit ihren schwimmenden Häusern über den großen See fliehen, auf dem sie einst gekommen sind, vor mehr als einem Baktun.«
Robert war stehengeblieben, überwältigt von der belfernden Rede des Priesters, von der ungeheuerlichen Schuld und noch furchtbareren Verantwortung, die er auf seinen Schultern spürte.
Notgedrungen mußten auch die vier Baldachinträger innehalten, ebenso Ja'much und die beiden Diener. Mit ihnen kam die ganze Kolonne zum Stehen, eine Prozession von mehreren Meilen Länge, an die tausend Maya, die hinter ihnen schweigsam durch Schlamm und Regen gewandert waren. In seinem Rücken vernahm er einen Schluchzer, von Henry oder Mabo, aber in diesem Moment nahm Robert das alles nur am Rande wahr.
»Was hat sie damit zu tun?« fragte er, mit so leiser Stimme, daß Henry den Kopf zu ihm herüberreckte. »Ixkukul, warum hätte sie mich verleiten sollen, den Zorn der Götter auf euch herabzubeschwören?«
Während er sprach, sah er unverwandt den alten Priester an, oder vielmehr durch ihn hindurch, und anstelle der stämmigen Gestalt und der finsteren Miene Ja'muchs erblickte er wieder die junge India, die ihn drängend, ja flehentlich anzuschauen schien.
»Ixkukul wollte ihren Bruder retten, das ist das eine«, sagte Ja'much. »Aber vor allem wollte sie Rache üben, für die Herabsetzung ihrer Gottheit Ixquic, der jungen Mondgöttin, die in Tayasal nur als Göttin minderen Ranges galt. Diese Gier nach Rache hatte wohl schon lange in ihr gebrannt, als du in die alte Stadt kamst. Ixkukul brachte dich dazu, die Formel der Wiederkehr zu suchen und den Canek und die obersten Priester davon zu überzeugen, daß sie Tayasal nicht zu verlassen brauchten. Von allen Priesterschaften wandten sich nur die Priester Cha'acs gegen diesen frevlerischen Plan. Doch sie fanden kein Gehör, im Gegenteil, sie wurden in ihrem eigenen Tempel gefangengehalten, als das gesamte Volk von Tayasal, seine edelsten Priester und
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