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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Chilam Balam, um dem Götterboten auf seinem prophezeiten Siegeszug beizustehen. Dahinter wanderte eine große Schar von Dschungelbewo hnern ohne priesterliche Würden: kakaobraune Gestalten, nackt bis auf den Schurz des Kriegers oder in schmucklosen weißen Tuniken, Jünglinge oder alte Männer, und sie alle trugen hohe Packen auf dem Rücken, mittels bunter Bänder, die um Schenkel und Stirn geschlungen waren. Es mochten schon mehr als hundert sein, schätzte Robert, und jedesmal, wenn er sich umwandte, schien ihre Zahl noch angewachsen. Auch einige Frauen waren darunter, doch wie er auch um sich spähte, von seiner jungen India war nichts zu sehen.
    Als besäße sein Blick magische Kraft, schien ein jeder zu erstarren, den er ansah oder zufällig mit den Augen streifte. Die meisten neigten dann den Kopf, manche hoben auch die aneinandergelegten Hände bis zur Stirn, wozu sie die rituelle Formel murmelten: »Ajk'ub' Maya'ib, nojochk'inb'il - Retter der Maya, wir preisen dich!« Aber währenddessen blieben ihre Mienen verschlossen, ihre Blicke düster. Für sie war er gekommen, dachte Robert, um eine jahrhundertealte Schuld zu tilgen, doch weit schwerer woge n Schmerz, Trauer und Schmach, die er damals auf sie und ihre Ahnen geladen hatte, durch seinen epochalen Verrat.
    Wie im Traum wandelte er dahin, an der Spitze des Zuges, der sich unterdessen auf mehr als eine Meile erstrecken mochte, eine dicht gedrängte Kolonne schweigsamer Marschierer. Nur selten, wenn der Weg über einen längeren Abschnitt schnurgerade verlief, konnte er weit hinten seine Gefährten zu Pferde sehen, Paul noch immer auf der Bahre liegend, die Mabo und Ajkechtiim mit Riemen auf dem Rücken der Fuchsstute befestigt hatten. Neben ihm ritten Stephen und Miriam auf dem gewaltigen Rappen, und trotz der großen Entfernung glaubte Robert zu spüren, daß zwischen den beiden eine unbehagliche Stimmung herrschte. Sicher haderte Miriam mit Stephens Entschluß, nach Kantunmak zu ziehen, nur auf die hingeworfene Behauptung des Chilam Balam hin, daß der Schatz von Tayasal dort verborgen sei.
    Es mochte Einbildung sein, doch immer wieder spürte er Miriams Blick auf seinem Rücken. Dann vergaß er, für einen Moment der Verwirrung, jedesmal den grauen Priester an seiner Seite und fuhr herum, um ihre grünen Katzenaugen zu suchen.
    Ja'much hatte aus dem Tempel des Chilam Balam zwar die graue Tunika mitgebracht, die ihm der alte Schamane in Chul Ja' Mukal vermacht hatte. Aber er hatte sich geweigert, ihm das Gewand auszuhändigen, und darauf bestanden, daß er nahezu nackt dahinschritt, gehüllt nur in seinen besudelten Schurz und das Opferblut, das ihn vom Gesicht bis zu den Füßen bedeckte. Ein ranziger Geruch ging von dem geronnenen Blut aus, und der Anblick, den er bieten mußte, wäre unter allen anderen Umständen zweifellos grotesk und abstoßend gewesen. Doch für die Priester und Krieger, an deren Spitze er dahinschritt, schien er ein so erhebendes und tröstliches Bild zu bieten, daß er selbst das Seltsame seiner Lage kaum mehr wahrgenommen hätte, wären da nicht immer wieder Miriams und Henrys Blicke gewesen: die falsche Nonne gierig und lauernd, der junge Diener dagegen mit fürsorglichem Kummer, als ob sein Herr an einer schrecklichen Krankheit litte. Für die Priester und Krieger dagegen, dachte Robert, war seine blutüberströmte Nacktheit feierlich überhöht, da sie glaubten, daß er nur gekommen war, um für sie zu siegen, in einem Blutbad, in dem er auch seinerseits wieder untergehen würde.
    Jedesmal, wenn er an den Soldaten Ihrer Majestät dachte, der ihn nach der Prophezeiung des Chilam Balam zu Tode bringen würde, zog sich sein Herz zusammen. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie die Uniformierten in Pauls Fernglas dahinstoben, auf stampfenden Rössern, durch Schluchten und Flüsse, nicht mehr nur sieben Soldaten, sondern eine ganze dahinjagende Armee. O mein Gott, dachte er, ohne sich an eine spezielle Gottheit zu richten, so soll sich die Prophezeiung tatsächlich auch in diesem ärgsten Punkt erfüllten? Aber wie konnten ihre Seher vor Jahrhunderten ahnen, daß zum vorausgesagten Zeitpunkt ein ganzes britisches Heer durch den Dschungel herbeieilen würde?
    Noch war ja nichts entschieden, sagte er sich dann wieder, vielleicht hatte sich Stephen auch geirrt, und der Gouverneur würde darauf verzichten, den Tod seiner Soldaten und das Massaker im Victoria Camp durch einen Feldzug zu sühnen. Durch solche Gedanken versuchte sich

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