Im Tempel des Regengottes
hätte sich ihm kaum mehr eine Gelegenheit geboten, einige vertrauliche Worte mit Stephen oder Paul zu wechseln, denn seit sie die Stätte des Jaguargottes verlassen hatten, schirmten Ja'much und seine jungen Priester ihn mehr und mehr von seinen Gefährten ab.
Er überwölbte seine Augen mit einer Hand und schaute über den schmalen See, an dessen Ufer überall kakaobraune Gestalten lagerten, eine schweigsame Menge, die inzwischen weit über tausend Köpfe zählte, Jünglinge, Frauen und Greise. An der gegenüberliegenden Seeseite entdeckte er seine Gefährten, zwischen übermannshohen Schilfstauden, in beengter Lage neben ihren Pferden und dem Packtier, dem Henry soeben den Futtersack umhängte.
Der Anblick seines jungen Dieners versetzte Robert einen Stich. In den zurückliegenden Tagen hatte er ständig den kummervollen Blick des kleinen Burschen auf sich gespürt, bis er es endlich nicht länger ertragen und Henry befohlen hatte, sich während ihres Marsches um die Pferde zu kümmern. Das war vorgestern in der Frühe gewesen - mit hängendem Kopf und trauervoller Miene war Henry nach hinten zu den Gefährten geschlichen, und obwohl sein Anblick Robert fast das Herz zerrissen hätte, sagte er sich auch nun wieder: Es ging nicht anders.
Schließlich war Henry nur ein Diener, außerstande, die Bedeutung der Ereignisse zu begreifen, die offenbar weit über seinen Verstand gingen. Das war auch gewiß nicht verwunderlich, wie Robert sich sagte, denn auch er selbst vermochte nur in seltenen Momenten zu erfassen, welchem Schicksal er entgegenwankte und aus welchen geheimnisvollen Gründen. Meistens jedoch überließ er sich einer trägen Ergebenheit, auf dem Meer der allgemeinen Verehrung dahingleitend und mitgezogen vom Sog der tief in ihm waltenden Sehnsucht, alle Beschwernisse des Lebens und Leibes von sich zu werfen und wie ein Tropfen im Ozean unterzugehen.
Von Henry dagegen ging eine Verwirrung aus, die ihn, Robert, wieder und wieder wankend zu machen drohte und die Stimmen des Zweifels nährte. Sie flüsterten in seinem Inneren, daß dies alles womöglich nur ein Irrtum sei, ein unheilvolles Mißverständnis und er selbst jedenfalls kein Götterbote, nicht ausersehen, die Maya zu befreien, eine uralte Schuld zu tilgen, so wenig wie jene India eine wiedergeborene Priesterin sei. So daß er, wie jene Stimmen ihm einzuflüstern versuchten, mit fremdem Blut beschmiert worden und in ein fremdes Leben gedrängt worden wäre oder sich selbst gedrängt hätte, so oder so sein eigenes Leben und selbst seinen eigenen Tod verfehlend, in der Wildnis einer ihm ganz und gar fremden Geschichte umhertaumelnd, in der alles von fremder Hand vorbestimmt sei: sein Auftreten als Bote, seine Aufgabe als Retter, seine Auslöschung als Sühneopfer in nicht einmal vierzehn Tagen.
Nein, er wollte nicht mehr darüber nachdenken, nicht länger an diesem Weg zweifeln, der sein ureigener Weg war, wie Robert sich sagte, ihm vorherbestimmt und mit seinen innigsten Sehnsüchten harmonierend. Doch als er innigste Sehnsüchte dachte, kam ihm abermals Henry in den Sinn, diesmal indes nicht der zweifelnde, kummervolle Blick des jungen Dieners, sondern sein Lächeln, seine anmutige Schlankheit, seine runden Wangen und roten Lippen, die zum Herzen und Küssen nur so verlockten. Schluß jetzt! mahnte sich Robert, was ist nur mit mir? dachte er wieder und riß seinen Blick nun endgültig von Henry los, der sich auf der anderen Seite des Sees hingekauert hatte, neben Ajkechtiim.
Mit einem zerfransenden Bananenblatt fächelte er sich feuchtheiße Luft zu. Es war ein wundersames Spiel der Ähnlichkeiten, dachte er, zu seinem früheren Gedankengang zurückkehrend, ein Spiel der Ur-und Spiegelbilder, zu wirklich und mannigfaltig, um bloß Irrtum oder Zufall entsprungen zu sein: die Stele bei Kantunmak und er selbst, die Mayafrau und ihr steinernes Bildnis, Youngboy und Oldboy, von denen er allerdings nach wie vor nur annahm, keineswegs wußte, daß es Brüder seien, die einander völlig gleichsähen, wie Zwillinge oder eben wie Ur-und Spiegelbild.
Er ließ das Bananenblatt fallen und erhob sich. Sogleich sahen zwei der jungen Priester zu ihm auf, mit wachsamen Mienen.
Doch er senkte nur beschwichtigend die Lider und deutete mit dem Kopf nach rechts, zu einer Stelle am Waldrand, wo das Unterholz weniger undurchdringlich schien. Die Priester nickten ihm zu, aber er spürte ihre aufmerksamen Blicke auf seinem Rücken, als er tiefer in den Wald
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