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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Krieger, seine Bauern und Fischer, Handwerker und Händler, am vorbestimmten Tag zu Zehntausenden in den Tod gingen.«
    »In den Tod?« wiederholte Robert. »Hieß es denn nicht, die Stadt sei verwaist gewesen, als die Spanier nach Tayasal kamen?«
    Finster sah Ja'much zu ihm auf, und so lange verharrte er schweigend, daß Robert schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. »Ixkukul und du«, sagte der alte Priester endlich, mit schleppender Stimme, »ihr hattet die Mächtigen von Tayasal gänzlich verblendet, den Canek und den Lahkin, den Hohepriester. Und so beugten an jenem Tag Zehntausende Maya ihren Nacken unter der Axt der Opferpriester, in der Erwartung, sich nach der vorbestimmten Frist wiederzuverkörpern, wie es die Formel der Wiederkehr verhieß. Als die fahlhäutigen Invasoren Tayasal erreichten, war in der ganzen Stadt niemand mehr am Leben. Zehntausende Totenschädel standen auf den viermal neunzig Stufen der Pyramide Kukulkans aufgereiht. Die überlebenden Priester und Krieger aber hatten zu diesem Zeitpunkt die Stadt längst verlassen.«

8
     
     
    Nach diesen wundersamen Eröffnungen, die Robert immer rätselhafter schienen, je länger er darüber nachsann, wich Ja'much jedem weiteren Gespräch mit ihm aus. Offenbar hatte er alles mitgeteilt, was zu enthüllen sein oberster Priester Ajkinsajd'aantoj ihn geheißen hatte. Wann immer Robert ihn in den folgenden Tagen zu befragen versuchte, gab sich der alte Priester wortkarg.
    Hatte auch Ixkukul ihren Nacken unter der Axt des Opferpriesters gebeugt? War auch der Canek in den Opfertod gegangen, und wer hatte dann den sagenhaften Schatz von Tayasal aus der Stadt gebracht? Was war mit den Zehntausenden Maya geschehen, die an jenem Tag alle den Opfertod gestorben waren - gab es Hinweise, daß sie sich tatsächlich wiederverkörpert hatten, wie es die Formel verheißen hatte, allesamt oder zumindest einige von ihnen?
    Je länger er darüber nachdachte, desto ungeheuerlicher schien ihm dieser Glaube: Wiederverkörperung zu einem Zeitpunkt und in einer Gestalt der eigenen Wahl. Also hatte Ixkukul, überlegte er, die uralte Verheißung einer »Mathematik der Götter« damals nur betrügerisch ausgenutzt für ihre Intrige, für einen tödlichen Racheplan, dem am Ende das ganze Reich des Canek zum Opfer gefallen war? Wenn er mit seinen Überlegungen an dieser Stelle angelangt war, überlief ihn jedesmal ein Frösteln, und beinahe erleichtert sprang er dann zu dem Gedanken über, daß diese Hypothese sehr viel mehr Fragen offenließ, als sie beantworten konnte.
    Die Strapazen ihres Marsches durch den Dschungel erlaubten ihm auch nur selten, über diesen Rätseln zu brüten, glücklicherweise, wie er sich immer wieder sagte. Tag um Tag zogen sie dahin, auf durchweichten Wegen, in drückend feuchter Hitze, vom Morgengrauen bis zum Mittag und vom frühen Nachmittag bis zum Abend, in wachsender Erschöpfung, die den Verstand benebelte und traumhafte Gaukelbilder aus Dampf und Schluchten aufsteigen ließ.
    Die Nächte verbrachten sie meist in Palmhütten, die die in stetig wachsender Menge mitwandernden Maya verblüffend rasch mit Äxten und bloßen Händen errichteten und deren geflochtene Dächer selbst den ärgsten Unwettern standhielten. Zwei-oder dreimal geschah es auch, daß Ja'much und seine jungen Priester sie zu einer verborgenen, halb in Wald und Schlamm versunkenen Ruinenstadt ihrer Ahnen führten. Dort spannten sie ihre Hängematten in modrigen Palästen aus, durch deren geborstene Dächer Zapote-oder Ceibabäume wuchsen und in deren bemoosten Sälen und Kammern Pumas und Leguane hausten.
    Zur Mittagsrast des elften Tages lagerten sie an einem kleinen See, im Schatten von Mahagonibäumen, deren Anblick Robert abermals an Oldboy denken ließ. Soeben hatten sie ihr karges Mahl verspeist, Dörrfleisch, Tortillas und einen Brei aus schwarzen Bohnen. Nun ruhte er auf einem flachen Steinbrocken, umgeben von den Priestern Cha'acs, die ihn kaum jemals mehr aus den Augen ließen. Noch immer hatte er den Gefährten nicht von seiner Entdeckung in Chul Ja' Mukal berichtet, in der unterirdischen Höhle des Regengottes, wo er jene in die Felswand eingelassene Fratze gesehen hatte, die er für das so kunstvoll wie abscheulich präparierte Antlitz jenes Oldboy hielt. Inzwischen war er sogar froh, daß er seine Entdeckung aus Chul Ja' Mukal verschwiegen hatte, die Stephen nur zu neuen Wutausbrüchen und womöglich zu unheilvollen Handlungen veranlaßt hätte. So oder so

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