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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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alten Chronik der Thompsons hieß. In diesem Stammbuch, das er vor vielen Jahren einmal durchgesehen hatte, wurde auch berichtet, daß die Fallsucht seit ältester Zeit als heilige Krankheit galt.
    Es könnte vieles erklären, sagte er sich, schob diese Erklärung aber gleich wieder von sich, erschrocken über die Folgerung, die sich ihm aufdrängte. Hieße das nic ht, daß ich tatsächlich auserwählt wäre, von jenen Mächten, die bei den Maya als Götter verehrt werden, und daß meine verworrenen Träume von Dschungel und Ruinen immer schon Zeichen waren, bedachtsam ausgesandt, um mich hierherzulenken? Und hieße es nicht vor allem anderen, daß der pulsierende Schmerz in meinem Schädel jeweils die Öffnung und Ausrichtung meines Geistes anzeigte, auf jene übernatürliche Sphäre hin, die sodann auf magisch-magnetischen Wegen mit mir kommunizierte?
    Er schüttelte den Kopf, behutsam, über seine eigenen Gedanken erstaunt. Nur ganz am Rande nahm er wahr, daß tief unter ihnen, am Fuß des bergartigen Palastes, zahlreiche Menschen versammelt sein mußten. Ein unablässiges Murmeln und Scharren drang herauf, wie von einer gewaltigen Menge, die gedrängt und geduldig auf irgendein großes Ereignis wartete. Zu seinen Füßen hatten sich Henry und Ajkech niedergelassen, auf den Unterschenkeln kauernd, während Ja'much noch immer nahe dem Rand der Terrasse stand, im gleißenden Sonnenlicht, und auf den Platz vor der Ka'ana hinuntersah.
    Tief in Gedanken saß Robert da und lauschte in sich hinein. Wie seltsam schien es ihm auf einmal, daß er sich überhaupt hier befand, nackt und wirrbärtig auf einer Palastruine im Dschungel der Maya, und nicht im kaltnebligen London, im »Fabrikantenclub« seines Vaters, steif befrackt und ausweglos verlobt. Sosehr er sich in den zurückliegenden Tagen und Wochen auch in seine Rolle als »Bote der Götter« eingelebt hatte, er hatte sie nie als gänzlich real empfunden, stets eher als Schattenidentität oder traumhafte Nachtseite, wenn auch in einem immerwährenden, Tage und Nächte überdauernden Traum.
    Die Menschenmenge am Fuße des Palastes brach in melodische Rufe aus, und Robert sagte sich, daß er nie zuvor ernstlich in Betracht gezogen hatte, daß zwischen diesen beiden Sphären eine Verbindung bestehen könnte. Vor Jahren hatte auch er mehrfach an Séancen teilgenommen, die sich in London so hartnäckiger Beliebtheit erfreuten. In verdunkelten Salons hatten Geister mittels rotierend er Blumenvasen zu den Anwesenden gesprochen, Tische und Teewagen waren wie hölzerne Kreaturen umhergesprungen, und wenn man den Meistern dieser spiritistischen Clubs glaubte, so offenbarten sich die Botschaften der Geisterwelt selbst im Rauschen der Bäume oder in der Anordnung eines vorbeiziehenden Vogelschwarms.
    Ja'much wandte sich zu ihm um und sagte etwas, und Henry sah zu ihm auf und übersetzte die Worte des alten Priesters. Doch Robert vernahm keine Laute, er sah nur ihre Gebärden und die Bewegungen ihrer Lippen, ihre Gesichter und Hände, von vibrierenden Lichtlinien umrahmt. Sosehr ihn die andere, traumhafte Seite der Welt immer fasziniert hatte, dachte er nun, er hatte niemals versucht, sich über den Grad ihrer Wirklichkeit klarzuwerden, aus einem instinktiven Mißtrauen gegen alles Begriffliche, den zergliedernden Verstand, die verwüstende Ratio. Mit Grimaldis Hilfe war er immer tiefer in diese Sphäre vorgedrungen, eine hypnotische Welt verstrüppter Wildnis, im Meeresgrund versunkener Ruinen, in denen mondbleiche Kreaturen hausten. Aber er hatte sich niemals Rechenschaft darüber abgelegt, daß diese Traumwälder und Traumstädte, die er, auf Grimaldis Couch liegend, immer wieder bereist und durchwandert hatte, Abbilder tatsächlich bestehender Orte sein könnten, von übernatürlicher Hand ihm übermittelt, womöglich sogar Erinnerungsbilder, aufsteigend aus dem dunklen Grund seiner Seele. Am ehesten hatte ihm immer die Vorstellung eingeleuchtet, daß all diese düsteren Bilder Vorboten der Auflösung waren, Todessymbole, seine Begierde nach der waldversunkenen Ruinenwelt nichts anderes als Sehnsucht nach Verlöschen und Untergang.
    Behutsam ließ er die Hände sinken und sah um sich. Der pulsierende Schmerz in seinem Kopf hatte endlich etwas nachgelassen, und die Lichtlinien, die jedes Ding, jede Gestalt zitternd zu umrahmen schienen, waren zumindest abgeblaßt. Noch immer sah Ja'much ihn erwartungsvoll an, ebenso wie Henry, der nun mit leiser Stimme erklärte: »Der Priester

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