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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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bittet Sie, zu ihm zu kommen und sich der Menge zu zeigen, Sir.«
    Die Rufe erschallten jetzt im Rhythmus anbrandender Wellen, erst immer lauter und drängender, dann wieder abebbend, soghaft zurückweichend, um gleich darauf desto brausender wiederzukehren. Robert erhob sich und trat aus dem schmal gewordenen Schatten der Palastfassade in die Mittagssonne hinaus. Die Terrasse hatte eine Tiefe von wenigstens zehn Schritten, ein bröckliger Steinboden, stellenweise zertrümmert, von Wurzeln gesprengt, der sich wie eine riesige Balustrade die ganze Breite des Berges entlangzuziehen schien.
    Langsam ging Robert auf den Rand der Terrasse zu, verwundert darüber, wie leicht und frisch er sich auf einmal fühlte. In seinem Kopf pulsierte immer noch der Schmerz, aber so leise nun wie ein Pochen im Traum. Er trat neben Ja' much, der wieder in angespannter Haltung auf den Platz hinabsah, und für einen Moment verschlug es ihm den Atem. Der Platz mochte achtzig auf achtzig Schritte messen, gesäumt von Urwaldbäumen und schlammbedeckten Gebäuden, und er war gedrängt voll mit Menschen, Hunderten, Tausenden, im Schurz des Kriegers oder in einfachen weißen Tuniken. Reglos standen oder kauerten sie jeder auf seinem Fleck, die einzigen Figuren, die sich dort unten bewegten, waren Priester Cha'acs, kenntlich an ihren nebelgrauen Gewändern. Mit schroffen Bewegungen schoben sie sich durch die Menge, Befehle erteilend, Neuankömmlinge einweisend, denn noch immer strömten weitere Maya von verschiedenen Straßen und Pfaden auf den Platz.
    Seit Robert neben Ja'much getreten war, sichtbar für die Menschen dort unten, waren ihre Rufe noch lauter geworden, von einem drängenden Rhythmus vorangepeitscht. Abwechselnd riefen sie zwei verschiedene Wortfolgen aus, eine davon kannte Robert schon, die rituelle Preisung des »Retters der Maya«:
    »Ajk'ub' Maya' ib, nojochk'inb'il.«
    Er verbeugte sich mehrmals, die Hände vor der Stirn zusammenlegend, wie es bei den Maya üblich war. Sie standen hart am Rand der Terrasse, und unter ihnen fiel die Palastfassade, mit Gras und Gestrüpp bewachsen, so steil ab, daß er einen ziehenden Schwindel verspürte. Lauter und lauter wurden die Rufe der Menge, die jetzt nicht mehr abwechselnd beide Wortfolgen skandierte, sondern nur noch den zweiten, längeren Ausruf, den er nie zuvor gehört hatte.
    »Was rufen sie?« fragte er Henry, mit erhobener Stimme und ohne sich umzuwenden. Es war ein Ausruf von überaus melodischem Wortklang, beinahe wie zwitschernder Vogelgesang, und so war Robert überhaupt nicht auf die Antwort vorbereitet, die Henry mit zitternder Stimme gab:
    »Geschenk der Götter, dein giftiges Fleisch im Rachen des Feindes beschert uns den Sieg.«
    Erschrocken fuhr er herum und blickte in das über und über zerfurchte Gesicht des uralten Maya-Abgesandten, der ihn, auf der Steinbank im Schatten hockend, so starr und finster ansah wie damals im Park des Gouverneurs.

2
     
     
    »Die Krieger der Völker Cha'acs sind bereits vollständig versammelt, vierzigmal vierhundert an der Zahl: Ebenso die Krieger Iks, des unbezwinglichen Windgottes, und die Jaguarkrieger des obersten Chilam Balam, der neunmal zwanzig heilige Kämpfer aus seinen Tempeln entsandt hat.«
    Eintönig floß die Rede des Alten. Er hatte Robert gewunken, sich zu ihm zu setzen, und Robert war auf die Steinbank im Schatten zurückgekehrt, noch immer erschrocken über die rituellen Rufe der Menge und tief verwundert, den Uralten plötzlich vor sich zu sehen. Der greise Mayagesandte, in einfachem weißem Gewand wie damals in Fort George, war wieder in Begleitung des Mayaknaben, dessen Züge von Schmerz und Trauer versteinert schienen. Robert hatte nicht gewagt, sich nach dem dritten Abgesandten zu erkundigen, den Stephen damals niedergeschossen hatte. Der Alte hatte ihn beim Handgelenk gepackt und auf die Bank niedergezogen, zu seiner Linken, so daß er nun zwischen den beiden saß, dem Greis und dem Knaben, als sollte er die Stelle des Erschossenen einnehmen, eines Mannes in jüngeren Jahren wie er selbst. Die Menge sang und skandierte, der Schatten schmolz in der nahezu lotrechten Mittagssonne, und der Uralte redete und redete mit grollender Stimme auf ihn ein. Zu ihren Füßen kauerten Henry und Ajkech, die sich nicht von der Stelle bewegt hatten, und während der Mestize den gleichförmigen Redefluß ebenso monoton übersetzte, sah Ajkech mit weitgeöffneten Augen von einem zum anderen.
    »Bis morgen zur Stunde der Eule«,

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