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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Eindringlinge führen wirst, um schließlich im Meer vergossenen Blutes wieder hinzugehen. An diesem Tag wird die Alleinherrschaft Cha'acs und seines obersten Priesters enden, denn fortan werden Ahau Kin und alle anderen Götter des dreizehnfaltigen Himmels und der neunfaltigen Unterwelt wieder gemeinsam unsere Welt regieren.«
    Sinnend sah Robert in das Gesicht des greisen Maya, der abrupt verstummt war und auf einmal müde wirkte, so hinfällig und ausgezehrt, als würden seine Kräfte kaum mehr reichen bis zu dem seit so langer Zeit ersehnten Tag. Das Ende von Tayasal selbst erlebt? dachte er. Für einen kurzen Moment hatte diese Behauptung des Alten ihn in Verwirrung gestürzt, aber es war ganz gewiß nur leere Prahlerei. Wie alt auch immer der Greis sein mochte, hundert Jahre oder darüber, er konnte das Ende des letzten Mayareichs nicht miterlebt haben, ganz und gar unmöglich, da Tayasal vor genau hunderzweiundachtzig Jahren in die Hände der Spanier gefallen war.
    Oder hatte der Alte sagen wollen, daß auch er in einem früheren Leben dort gewesen sei? Eben wollte Robert danach fragen, da fiel ihm wieder ein, was ihm vorhin, während der langen Rede des Greises, in den Sinn gekommen war. Seltsam, daß ich vorher nie daran gedacht habe, sagte er sich wieder, und für einen Moment war ihm, als hätten sich die brausenden Rufe unter ihnen wahrhaftig in Wellen verwandelt, anbrandende Wogen, die gleich den Berg emporrasen und sie alle mit sich reißen würden, die beiden Gesandten, ihn selbst, Henry und Ajkech.
    »Frag ihn, weshalb er überhaupt in Fort George war«, wies er seinen Diener an, mit erhobener Stimme, um die Rufe der Tausende oder Zehntausende Krieger zu übertönen, »in welcher Mission waren er und die beiden anderen beim Gouverneur?«
    Der Mestize übersetzte, und der Uralte schloß die Augen, als müsse er über diese Frage länger nachsinnen. »Geschenk der Götter«, sang die Armee der Mayakrieger, »dein giftiges Fleisch im Rachen des Feindes beschert uns den Sieg«, und endlich öffnete der Alte wieder die Augen und sagte: »Auf Befehl Ajkinsajs erklärten wir dem Statthalter der bleichen Königin, daß wir entschlossen sind, die Herrschaft über unser Land wieder zu übernehmen. Wir forderten ihn auf, unser Land unverzüglich zu verlassen, anderenfalls wir ihn, seine Siedler und Soldaten mit einer Streitmacht von viermal dreizehntausend Kriegern in den großen Salzsee zurücktreiben würden, über den sie einst mit ihren schwimmenden Häusern gekommen waren.«
    Verwirrt sah Robert ihn an. Ajkinsaj hatte eigens Boten zum britischen Gouverneur geschickt, um den Aufstand seiner Krieger anzukündigen? Aber warum nur? Weil er des prophezeiten Sieges gänzlicher sicher war? Oder weil er an diesen Sieg zwar glaubte, ihn jedoch zu vereiteln suchte, indem er dem Gegner eine Warnung zukommen ließ? Eher wohl aus diesem letzteren Grund, dachte Robert, der auf einmal bemerkte, daß Ja'much vor ihnen stand, ein Schattenriß im gleißenden Mittagslicht.
    »Folge mir, Bote der Götter«, sagte er in ehrerbietigem Tonfall, »in den Tempel des Jaguargottes, wo alles für die Zeremonie vorbereitet ist.«
    Robert verspürte ein leises Bedauern, daß er die beiden Gesandten schon wieder verlassen mußte, und heftigen Widerwillen, als er an das Ritual dachte, das ihm zweifellos wieder bevorstand, das Ausgießen des Blutes über seinem Körper und ekstatische Verreiben überall auf seiner Haut. So vieles hätte er den Alten noch fragen wollen, und an den zweiten, den jugendlichen Mayagesandten hatte er noch kein einziges Wort gerichtet.
    Aber Ja'much ließ ihm keine Wahl, und so erhob er sich von der Bank und nickte den beiden Abgesandten zum Abschied zu. Zusammen mit Henry und Ajkech folgte er dem Priester Cha'acs linker Hand den First entlang, bis sich zu ihrer Rechten ein schmaler Säulengang öffnete. Noch immer fühlte er sich so frisch und kräftig, als hätte er niemals an Kopfschmerz und völliger Erschöpfung gelitten. Henry trottete mit hängendem Kopf neben ihm her, graugesichtig, als wäre er soeben seinem eigenen Geist begegnet. Was verstand der Bursche von diesen Dingen? Manchmal schien es Robert, daß Henry sich vor ihm verstellte, aber aus welchem Grund? Konnte es wirklich sein, überlegte er dann, daß Ajkinsaj versucht hatte, durch seine Gesandten den prophezeiten Kampf zu beeinflussen - und zwar zum Nachteil seines eigenen Volkes? Es würde jedenfalls erklären, weshalb der oberste Priester

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