Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
Striche über dem Pfeil sind Zahlzeichen, das zumindest ist ziemlich klar«, sagte Paul. Er deutete auf die vertikale Zeichenkolonne unterhalb der stilisierten Pyramide.
    »Schließlich sind es die einzigen Zeichen der alten Schrift, die die Nachfahren der großen Mayakönige noch heute verwenden, obwohl sie längst auf die Stufe nackter Affen abgesunken sind.«
    Paul machte eine Pause und sah ihn aufmerksam an, zweifellos in der Erwartung, daß Robert ihn einmal mehr für seine Schmähworte tadeln würde. Aber Robert blickte nur geistesabwesend auf und schaute dann gleich wieder auf die Zahlzeichen, neben denen Pauls fuchsrot behaarter Zeigefinger über das Papier tänzelte.
    »Bekanntlich besaßen die alten Maya eine ausgefuchste Mathematik«, fuhr Paul fort, »wenngleich sie nach dem Zwanzigersystem rechneten und nicht nach dem heute üblichen Dezimalsystem. Waagrechte Striche bedeuten eine Fünf, Punkte jeweils eine Eins, wobei die einzelnen Zahlenstellen übereinander angeordnet wurden, nicht horizontal, wie wir das zu tun pflegen. Der Strich in der unteren Reihe steht also für fünf Einer, Balken und Punkt in der Mitte bedeuten sechs Zwanziger, die beiden Punkte darüber zwei Vierhunderter, macht 925 - und zwar Schritte, Fuß oder eine ähnliche Maßeinheit, wie wir vermuten. Was also bedeuten würde, daß unser Schatz tausend bis dreitausend Fuß tief unter dieser Pyramide liegt.«
    Sie alle hoben nun wieder die Köpfe und sahen einander für einen Moment schweigend an. Irrsinnig, dachte Robert, vollkommen verrückt. Entweder diese Angabe war falsch, oder Paul und Stephen konnten über dem Schatz gleich auch ihren Traum begraben.
    »Eine Dreiviertelmeile in Richtung Hölle, ja?« Miriam stieß ein Schnauben aus, das gereizt und verachtungsvoll klang. »Und das nennst du kurz vor dem Ziel, Stephen? Wie zum Teufel wollt ihr euch jemals in eine solche gottverdammte Tiefe hinuntergraben?«
    Stephen und Paul wechselten einverständige Blicke. Offenbar hatte Stephen auch vor Miriam bis heute die heiklen Einzelheiten ihrer Schatzsuche verschwiegen, dachte Robert, während er seine flachen Hände links und rechts gegen die Schläfen preßte. Wieder spürte er Miriams Katzenaugen, die groß und lockend auf ihn gerichtet waren, die heiße Intensität ihres Blickes, der über sein Gesicht und seinen Oberkörper fuhr.
    »Zum Donner, Robert, hörst du nicht?« Das war Stephen, der mittlerweile so erregt schien, daß er seine Stimme zu dämpfen vergaß. »Jetzt kommt dein Auftritt! Dafür haben wir dich schließlich mit hierher genommen: damit du uns diese Zeichen übersetzt. Laut unserem Gewährsmann erklären sie, wie man durch verborgene Türen und Gänge zum Schatz hinabgelangt.« Er setzte seine rechte Hand auf das Blatt, die Finger gespreizt, der Handrücken emporgebuckelt, und drehte die Karte zu Robert, der ihm gegenüber am Boden hockte. Sein Zeigefinger deutete genau auf das längliche Rechteck, das mit winzigen Glyphen in waagrechten Reihen angefüllt war wie ein Bienenstock mit Waben. »Also laß hören, Bote der Götter: Wo ist der Einstieg, wo verläuft der geheime Weg?«
    Wieder sah Robert auf das Gewirr der Schriftzeichen hinab. Inzwischen schmerzte sein Kopf so heftig, daß er fürchtete, gleich das Bewußtsein zu verlieren. Winzige Flammen schienen aus den Glyphen zu schlagen, und Lichtzungen tänzelten um jedes einzelne Zeichen herum, in allen erdenklichen Rot-und Grüntönen. Er starrte die Glyphen an und hoffte nur, in dumpfer Ergebung, daß ihre Bedeutung ihm wiederum zufliegen möge, wie es ihm vorhin bei der »Schatz«-Glyphe geschehen war. Aber diesmal stellte sich, wie angestrengt er auch die Zeichen fixierte, nicht die schwächste Ahnung ein.
    Schließlich sah er wieder auf und schüttelte nur schwach den Kopf. Jetzt kommt es also heraus, dachte er, jetzt erfahren sie, daß ich sie von Anfang an getäuscht habe und sowenig wie irgendwer sonst auf der Welt imstande bin, diesen Wirrwarr von Linien, Punkten, Kreisen zu entschlüsseln.
    Stephen starrte ihn an, mit geweiteten Augen und einer Miene, die finstere Überraschung verriet. »Du weigerst dich?« rief er aus. »So vergiltst du unser Vertrauen? Glaubst wohl immer noch, daß du was Besseres wärst - und jetzt erst recht, wo die Affen dich für ihren gottgesandten Kriegsherrn halten!«
    »Warte, Stephen, bitte.« Wieder preßte Robert die flachen Hände an seine Schläfen, aber der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen. »Im Augenblick kann

Weitere Kostenlose Bücher