Im Tempel des Regengottes
fuhr der Uralte fort,
»werden auch die Kämpfer der meisten anderen Völker eingetroffen sein. Die Krieger von Mam, der Urgöttin, und Tzotzil, dem großen Würger, auch sie jeweils vierzigmal vierhundert an der Zahl. Die goldenen Krieger von Ahau Kinich, der Völker des Sonnengottes, und die silbernen Krieger Ixquics, der Völker der jungen Mondgöttin...«
»Warte.« Robert hob eine Hand. Die Zahlen, die der Uralte erwähnt hatte, erschreckten ihn, und bei der Erwähnung von Ixquic, der jungen Mondgöttin, begann sein Herz noch rascher zu schlagen. Suchend sah er sich nach Ja'much um, aber von dem grauen Priester war auf der ganzen weiten Terrasse nichts mehr zu sehen. »In den letzten Wochen hörte ich immer wieder«, sagte er, »daß die Maya den Regengott Cha'ac als ihre mächtigste Gottheit verehren. Trifft das aber nur für die Völker zu, die im Umkreis von Kantunmak leben? Gibt es also, wie ihre Namen vermuten lassen, etliche weitere Mayavölker, die nicht Cha'ac, sondern andere Götter verehren - darunter sogar die Mondgöttin Ixquic?«
Er hatte versucht, in ruhigem Ton zu sprechen, doch es schien ihm, als ob seine Stimme verräterisch bebte. Prüfend sah er den Uralten an, aber aus dessen Runzelmiene war nicht abzulesen, ob er einen Argwohn hegte. Wußte der Alte womöglich gar, daß die junge India in der Stadt war? Auf einmal schien es Robert, als könnte er es keine Minute mehr ohne sie ertragen, als müßte er jetzt augenblicklich loslaufen, Gänge entlang und Treppen hinab und durch Türen und Tore hinaus, dann unten auf dem Platz sich durch die Menge drängen, Straßen um Straße durcheilen, bis er endlich bei ihr wäre, sie in den Armen hielte, ihre Lippen auf seinem Mund, ihren Busen an seiner Brust spürte. Aber natürlich konnte er jetzt nicht einfach auf-und davongehe n, sagte er sich, während Henry mit schleppender Stimme übersetzte, er war ein Gefangener Ajkinsajs, des allmächtigen Herrschers von Kantunmak, dessen Wächter gewiß verhindern würden, daß er auch nur den Palast verließ. Außerdem war er körperlich geschwächt, auch wenn er sich gerade im Moment rätselhaft gekräftigt fühlte. Und schließlich würde er ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn er in törichtem Liebeswahn durch die Straßen stolperte und die Schergen Ajkinsajs geradewegs zu ihr führte.
Nachdem Henry fertiggesprochen hatte, sah der Uralte noch längere Zeit in finsterem Schweigen an Robert vorbei, auf die lichtüberflutete Terrasse. »Du verhöhnst unseren Schmerz«, sagte er endlich, »wenn auch aus Unwissenheit. Die Namen unserer Völker stammen aus den alten Zeiten, als noch alle zweiundzwanzig Götter mit uns waren. Seit damals, als du versagt und die Maya von Tayasal verraten hast, Götterbote, stehen wir einzig unter dem Schutz des zornigen Cha'ac. Die Völker Ixquics und Ahaus ebenso wie die Tzotziles oder die Krieger Mams.«
Er unterbrach sich und wechselte einen Blick mit dem Knaben, der still zur Rechten von Robert saß und aufmerksam zuzuhören schien. Das eingefallene, mit Runzeln übersäte Gesicht des Uralten hatte sich noch weiter verdüstert, und sein Blick ging abermals ins Leere, als stiegen widrige Erinnerungen in ihm auf.
»Seit damals«, fuhr er schließlich fort, »leben wir alle unter dem Joch der Eroberer, in Höhlen wie die wilden Tiere oder in den lichtlosen Gewölben unter den Ruinen unserer Ahnen. Haß ist unser Brot, Trauer unser Trunk, Zorn unser nächtliches Lager, Rache die einzige Heilung für unseren Schmerz. Ich selbst habe das Ende der herrlichen Stadt Tayasal noch erlebt«, murmelte der Greis, und Robert starrte ihn an, entgeistert, doch zugleich durch einen Gedanken abgelenkt, der plötzlich, unbezwingbar, in ihm aufgestiegen war. »Ich war dabei«, raunte der Uralte, »als die edelsten Priester und Krieger von Tayasal ihr Haupt unter der Axt der Nacomes beugten, und ich war auch zugegen, als der Chilam Ba lam zwanzig Tun später prophezeite, daß Cha'ac seine Macht über die Welt der Maya dereinst wieder mit den anderen Göttern teilen werde.«
Neuerlich unterbrach sich der Greis und sah ihn durchdringend an. Immer lauter sang und rief unter ihnen die Menge, es klang nun wahrhaftig wie das Brausen eines gewaltigen, sturmgepeitschten Meeres.
»Das wird geschehen an dem Tag, den der Chilam Balam prophezeit hat«, sagte der Uralte, »heute in neun Tagen, an Sechs Ahau Dreizehn Tzul. Es ist der Tag, an dem du, Götterbote, die Krieger der Maya zum Sieg gegen die weißen
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