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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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er würde dafür sorgen, daß der Götterbote nicht den kleinsten Einfluß auf das Kampfesgeschehen bekam. Und am Ende, wenn Ajkinsajs Pläne aufgegangen oder gescheitert wären, wenn die Wege und Plätze und Treppen von Kantunmak jedenfalls mit Hunderten und Tausenden toter Körper bedeckt wären, dachte Robert, wü rde sich die Prophezeiung zumindest in diesem letzten Punkt erfüllen: indem der Götterbote »wieder dahinging, in Strömen vergossenes Blutes«.
    Die Flöten winselten, die Trommeln donnerten, unaufhörlich wurden blutige Bänder auf seine Brust, seine Schultern geklatscht. Warum wird mir das alles jetzt erst klar? fragte sich Robert. Und wieso schmerzt mich diese Einsicht ärger als alle Peinigungen, die Ajkinsaj noch für mich ersinnen mag? Er hatte sich die Frage kaum gestellt, als ihn die Antwort förmlich ansprang: weil ich wieder nur eine Marionette sein werde, Holzmensch, Fadenpuppe, gelenkt vom Willen anderer, den Listen, Begierden anderer, den Visionen und Geschicken anderer, wie seit jeher, mein Leben lang. Von den Eltern, ihren tausend toten Regeln, von Mary, der Korsettstange ihrer Forderungen und Vorstellungen, von Ökonomie und Profit, von der Maschinerie der Manufaktur, von zehntausend totenfahlen Traditionen. Und jetzt? fragte er sich, und es war weniger ein Gedanke als eine rasche Folge zerstückelter Bilder: Was wäre ich anderes als die Marionetten auf den beiden Thronen neben Ajkinsaj, der kindliche Sonnengottpriester, die lallende Idiotin im silbernen Gewand? Was sind die Hiebe, die Ajkinsajs Priester mir unaufhörlich versetzen, anderes als die Schläge, mit denen Vater und Lehrer mir ihre knöchernen Regeln einzudrillen versuchten? Was die blutigen Streifen, die sie mir auf die Haut hauen, anderes als unbegreifliche Gebote, widersinnig und menschenfeindlich, einzig erdacht, um die Herrschaft sturer Tyrannen zu befestigen? Um die Menschen in Untertanen zu verwandeln, Küsse in Flüche, Gesänge in Gesetze, Liebende in Soldaten, die Friedlichen in Totschläger, die schmerzende, sehnsuchtsvolle, ungeküßte Haut in den unempfindlichen Panzer eines mordgierigen Krokodils?
    Die Fäuste flogen, die Schläge klatschten auf seinen Bauch, seine Schenkel, auf Wangen und Stirn. So ungestüm schlugen die Priester mittlerweile zu, daß Robert bei jedem Hieb ein dumpfes Malmen zu spüren glaubte, als gäbe selbst die steinerne Säule unter der Gewalt der Schläge mehr und mehr nach. Er spähte nach den blutigen Bändern, die an seiner bleichen Brust oder seinen knochenfahlen Schenkeln hafteten, seinen Hals umwanden, ihn über und über bedeckten, wie einen Leichnam, der urplötzlich zu bluten begann. Die Streifen flatterten im Wind, und Robert bermerkte verschiedene Glyphen, deren Botschaft ihm auf einmal nicht mehr rätselhaft schien, sondern auf niederdrückende Weise klar. Die Menge heulte Anrufungen, und er sah glotzäugige Götterköpfe, die prallen Lippen zu einem grausamen Lächeln verzogen. Die Flötenspieler wiegten sich in ekstatischer Trance, und Robert sah stilisierte Priester, am Boden kauernd, mit vasenförmigen Schädeln, die oben geöffnet waren, um die Botschaften der übernatürlichen Mächte zu empfangen. Die blutigen Bänder flatterten, und er erkannte Schriftzeichen, die grimmig blickende Krieger darstellten, mit gezückten Dolchen und aufgerichtetem Schamglied, von dem ebenso Blut tropfte wie von der Klinge aus Obsidian. »Cha'ac, erhöre unser Flehen! K'ik! Du Gottheit der Männer, Ungestümer, ewig Wandelbarer, sieh doch, wir bringen dir ein Opfer dar. K'ik!«
    Die Sinne wollten ihm schwinden. Hinter seinem Rücken hörte er die Stimme Henrys, ein traumhaftes Gemurmel, das längst nicht mehr ihm, sondern nur noch dem Wallach galt. Die Sonne brannte, die Schmerzen brannten, doch ärger als alles andere brannte die Scham. Er stöhnte und knirschte mit den Zähnen, schon kaum mehr bei Bewußtsein, im Rhythmus der Trommeln, der winselnden Knochenflöten. Unaufhörlich stießen die grauen Priester ihre Anrufungen aus, brandeten gegen ihn an, schlugen ihn, besudelten ihn, schrieben und hieben ihre Gebote und Glaubenssätze mit Blut und Fäusten in seine Haut.
    »Krieger der Maya, hört mich an!«
    Er konnte nur für wenige Augenblicke das Bewußtsein verloren haben. Als er wieder zu sich kam, stand die Sonne noch fast lotrecht am Himmel, und die Priester vollführten noch immer ihre Zeremonie zu Ehren Cha'acs. Hatte er ihren Ruf nur geträumt? Blinzelnd sah er um sich, zu den

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