Im Tempel des Regengottes
jetzt durch Pfützen, Ratten fiepten, und vom morastigen Boden stieg Fäulnisgestank auf. Immer wieder wandte sich Helen zu dem jungen Priester um und versuchte von seinen Augen, Stirn und Lippen abzulesen, was sie mit ihr vorhaben mochten. Doch der Ausdruck unbestimmter Sanftheit in seinem Gesicht wechselte niemals, als wäre er lediglich auf eine Holzscheibe aufgemalt.
Hinter einer Biegung ging der Gewölbegang unversehens in eine Treppe über, die so steil aufwärts führte, daß Helen mit ihrer Trage fast senkrecht zwischen den Priestern schwebte.
»Warum antwortet ihr nicht?« Abermals wandte sie sich zu dem jungen Priester um, so heftig, daß ihre Nackenmuskeln schmerzten. »Wie lautet euer Befehl? Wohin sollt ihr mich bringen?«
Zu ihrem Erstaunen erhielt sie diesmal eine Antwort. Mit unveränderlich sanfter Miene, zu der nur die heisere Stimme nicht passen wollte, erwiderte der Priester: »Nur ruhig. Wir sind schon da.«
Tatsächlich hatten sie soeben das Ende der steilen Treppe erreicht und traten in einen weiten, kreisrunden Saal. Obwohl es in den Wänden oder der Decke keinerlei Fenster gab, war der Raum taghell erleuchtet, durch Dutzende mächtiger Fackeln, die in Mauernischen brannten und von denen silbriger Dampf aufstieg. Früher einmal mußte es ein prachtvoller Saal gewesen sein, in dem feierliche Rituale veranstaltet wurden, heute jedoch war der Glanz auch hier längst verblichen: der Mosaikboden zersprungen und mit Steinbrocken übersät, der Stuck von Decken und Wänden abgeblättert, die riesigen Wandgemälde stockfleckig und verblaßt.
In der Mitte des Raumes ragten zwanzig oder mehr mächtige Säulen mit Reliefmustern auf, einen silbergrauen, glänzenden Steinblock säumend, auf den die Priester sich mit ihrer Trage zu bewegten. Der Block mochte drei Fuß hoch und wenigstens zehnmal so breit sein, und wie Helen im Näherkommen erkannte, wies er die Umrisse einer liegenden Mondsichel auf.
Die Priester setzten ihre Trage auf dem steinernen Halbmond ab und lösten ihre Lederriemen. Noch während Helen sich aufrichtete, ihre Kniekehlen reibend, trat hinter einer Säule Ixnaay hervor, im silbernen Gewand der Mondgottpriesterin und mit einem wehmütigen Lächeln, das Helen unecht und unangemessen schien.
»Verzeih mir, daß ich dich so ohne weiteres hierherbringen ließ«, sagte Ixnaay, »ich sehe ein, daß du zornig auf mich sein mußt. Aber bitte« - sie hob die Hand zu einer beschwichtigenden Geste - »laß mich erklären, Schwester, dann wirst du verstehen, daß mir keine Wahl blieb.«
»Schwester!« wiederholte Helen. »Was gibt es da zu verstehen? Und wieso bittet die große Puppenspielerin ihre Marionette um Verzeihung? Obwohl du doch, wenn du an den Fäden ziehst, um mich oder Mr. Thompson oder wen sonst noch zu lenken, immer nur das große, gerechte Ziel im Auge hast?« Helen glitt vom Altar der Mondgöttin und hinkte auf Ixnaay zu. Weit heftiger als die Schmerzen in ihrem Fuß brodelte in ihrem Innern der Zorn. »Ist es nicht so, Ixnaay? Sind Lüge, Erpressung, Vertrauenserschleichung nicht dein tägliches Brot? Handelt du und deine Mitverschworenen nicht seit jeher nach dieser Maxime: Erlaubt ist, was den edlen Zwecken dient? Und da entschuldigst du dich bei mir, weil du mich durch Gänge und Tunnel hierher verschleppen ließest? Bin ich denn nicht mein Leben lang in einem Labyrinth aus Lügen und Täuschungen herumgeirrt, weil es euch für eure gute Sache dienlich schien?«
Mit brennenden Augen stand sie vor Ixnaay, die Hände zu Fäusten geballt. Sie selbst hatte bis zu diesem Moment nicht einmal geahnt, wieviel Wut, wieviel Bitterkeit in ihrem Innern angestaut waren, doch nun spürte sie, wie gut es tat, ihre Seele zu erleichtern.
Ixnaay ließ nicht erkennen, ob der heftige Angriff sie getroffen hatte. »Ich sehe ein, daß du wütend auf mich sein mußt«, wiederholte sie mit leiser Stimme. »Aber glaub mir, Helen: Wenn du mich anhörst, wirst du verstehen, daß wir nicht anders handeln konnten.«
»Daß ihr Mr. Sutherland erpressen mußtet?« gab Helen zurück. »Daß ihr gar nicht daran interessiert sein konntet, daß er mich jemals als seine Tochter anerkannte? Daß du Mr. Thompsons Gesundheit zerstören mußtest, indem du die Stele umstürzen ließest - all das werde ich dann verstehen, Schwester? Weil es ja immer um die gute Sache ging, um die Vermeidung von Blutvergießen? Weil Krieg und Gewalt, wie du es nanntest, immer nur der ›Wahnsinn der Männer‹ ist - und ihr
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