Im Tempel des Regengottes
und die aufwendige Verzierung ihrer grauen Gewänder wiesen sie als ranghohe Priester aus, auch ihre hochmütigen Blicke zeigten an, daß sie sich über die Menge der gemeinen Priester, gar über die einfachen Krieger unten auf dem Platz weit erhaben fühlten. Robert ließ seinen Blick durch ihre Reihen schweifen, bis er die stämmige Gestalt mit den buschigen Augenbrauen fand, nach der er gesucht hatte. Reglos saß Ja' much auf der Treppe der mittleren Pyramide, unmittelbar unter dem First, auf dem sich eine Ceiba zwischen ungefügen Steintrümmern erhob, wie ein großer grüner Vogel mit gespreizten Flügeln.
Von Ajkinsaj war noch immer nichts zu sehen, aber die spürbare Spannung, die über der Menge lag, ließ erwarten, daß die Zeremonie in Kürze beginnen würde. Ja'muchs Miene allerdings, dachte Robert, drückte eher Zorn und Verdruß aus, als mißbilligte er Ajkinsajs Entschluß, vor der großen Schlacht seine magischen Heilkünste vorzuführen. Robert faßte den alten Priester schärfer in den Blick. Ja'much mochte dreißig Schritte von ihm entfernt sein, doch er sah deutlich, daß der Priester mit finsterer Miene, Augen und Lippen zusammengekniffen, auf das verhüllte Kugelgebilde starrte, das sich ihm gegenüber, an der offenen Seite des Pyramidenhofs, erhob. Etwas Furchtbares würde geschehen, bald schon, er spürte es wie eine Hand an seinem Hals.
Robert hatte es kaum gedacht, als plötzlich Ajkinsaj auf dem First der mittleren Pyramide erschien, in der Rechten wieder seinen roten Knochenstab, den er mit einer gebieterischen Gebärde hoch über seinen Kopf erhob. Die zehntausendköpfige Menge auf dem Dach des Palastes und unten auf dem Platz verstummte. Für einen langen Moment herrschte vollkommene Stille, dann setzten, dröhnend wie Donner, langsam und kraftvoll, Schläge unsichtbarer Trommeln ein.
2
Eine Treppe, ein abschüssiger Seitengang, dann wiederum Stufen, die sich Windung um Windung in die Tiefe schraubten. Ab und an flackernde Wandfackeln, und abermals Düsternis. Die grauen Priester hatten sie bäuchlings auf ihre Trage gebunden, mit Lederriemen um Beine und Le ib. Dennoch klammerte sich Helen mit beiden Händen fest, denn das Tragbrett schaukelte wie ein Kanu in der Dünung. Die Priester rannten, so rasch, wie Zwielicht und Enge es erlaubten, ihr gefesseltes Opfer mit sich reißend, und ihre Schritte hallten in dem niederen Gewölbe.
Offenbar befanden sie sich tief unter der Erde, jedenfalls war es empfindlich kühl. Moos und Flechten überzogen den Steinboden, die Luft roch nach Moder, und an den roh behauenen Wänden glitzerte Schimmel im Fackellicht.
In Helens rechtem Fuß klopfte leise und beharrlich der Schmerz. Ixnaay hatte die Wunde mit einer Salbe bestrichen und mit dem silberfarbenen Tuch verbunden, und sie hatte behauptet, daß die Quetschung schon bald geheilt sein werde. Aber ohne Ixnaay wäre ich gar nicht erst verwundet worden, sagte sich Helen, sowenig wie der bedauernswerte Mr. Thompson, dessen Rückenverletzung sicher weit gefährlicher und schmerzhafter ist als mein weher Fuß. Doch Ixnaay hatte erklärt, daß auch diese Verletzung in wenigen Wochen vollständig ausheilen werde, wenn Mr. Thompson nur ihren Ratschlag befolgte und acht Tage lang unbeweglich an sein Rückenbrett gebunden blieb.
»Nun redet doch endlich: Wohin bringt ihr mich?«
Sie hatte es schon ein halbes Dutzend Mal gefragt, wütend, bittend, flehend, aber die Priester zeigten keinerlei Reaktion. Vor ihrem Gesicht schaukelte der breite Rücken des älteren der beiden, eines stämmigen, schon grauhaarigen Mannes, der sie vorhin drohend angesehen und ihr den Mund zugehalten hatte, ehe sie mit ihr im Seitengang verschwunden waren. Um den zweiten Priester in den Blick zu fassen, der die Traggriffe hinter ihr umklammert hielt, mußte sie ihren Kopf so weit verdrehen, wie es ihre Fesseln erlaubten. Es war ein schmaler Jüngling, in grauem Gewand wie alle Regengottpriester, doch sein rundliches Gesicht trug einen sanften Ausdruck.
Möglicherweise hatte Ajkinsaj sie verschleppen lassen, dachte Helen, um Mr. Thompson einen Schlag zu versetzen, da er den »Götterboten« maßlos zu hassen schien. In diesem Fall hatte sie gewiß keine Gnade zu erwarten, dennoch empfand sie seltsamerweise nur wenig Angst. Sehr viel stärker war ihre Sorge um Mr. Thompson, den die beiden anderen Priester weiter die breite Treppe emporgetragen hatten, zum First der Ka'ana hinauf.
Die Schritte ihrer Träger platschten
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