Im Tempel des Regengottes
glühende Zigarren in den Mündern, die Augen nach oben verdrehend, die Hände vor der Stirn flach zusammengelegt. Seinen rote Knochenstab wie ein Zepter schwenkend, stieg der Canek von Kantunmak Stufe um Stufe hinab, bis er den zertretenen Mosaikboden erreichte. Roberts Blicke flogen zwischen ihm und dem Götterkopf hin und her, zwischen dem hünenhaften Herrscher und seinen wie Schlachtfleisch zusammengeschnürten Opfern, zwischen dem Antlitz Ajkinsajs, das zu einer Maske wollüstiger Grausamkeit gebläht schien, und den angstverzerrten Gesichtern, die falsch herum vor dem Maul des steinernen Gottes herabhingen.
Abermals hatte er den Eindruck, all das schon einmal erlebt zu haben, zumindest Fetzen der hiesigen Geschehnisse, in bunter Willkür zum Traumteppich gewebt. Ob es womöglich doch Erinnerungen aus seinem früheren Leben waren, als Götterbote in Tayasal? Ixnaays wegwerfende Worte fielen ihm ein: »Erst was wir verloren haben und nicht mehr verstehen, verehren wir als Gott.« Sein Blick haftete an Ajkinsaj, die Trommeln vibrierten in einem leisen, drängenden Stakkato, und wieder schien es Robert, daß der oberste Priester Enrico Grimaldi unglaublich ähnlich sah, sein noch junges, wulstiges Gesicht, die hypnotischen Augen unter dem nebelgrauen Haar. So muß es gewesen sein, dachte er: All das hier habe ich wirklich schon einmal gesehen, auf der Liege in Grimaldis verdunkeltem Zimmer ruhend, in einen magnetischen Traum versetzt durch seine Zauberkraft. Aber das war gewiß auch keine Erklärung, die den nüchternen Verstand befriedigen würde, dachte er dann, an der Zigarre ziehend. Oder verhielt es sich etwa so, daß er tatsächlich in London auf Grimaldis Couch lag, daß er Mary, seinen Vater, die Manufaktur nie verlassen hatte und sich in magnetischer Trance lediglich einbildete, in dieser Ruinenstadt tief im Dschungel zu sein? Robert starrte Ajkinsaj an, wie er durch die Gasse seiner Priester schritt, und es schien ihm unfaßbar, wie sehr der oberste Priester Cha'acs dem Magnetiseur Grimaldi glich, sehr viel mehr, dachte er, als ich selbst dem steinernen Bildnis dort draußen oder als Ixnaay der Stele der Mondgottpriesterin.
»Zum Donner, es ist wirklich Valentine«, hörte er Stephen aufs neue murmeln, während sich der Qualm von tausend Zigarren mit dem Wasserdampf mischte, der von den Pfützen aufstieg, und die Trommeln unverwandt erklangen, langsam und kraftvoll, in drängendem Takt.
Robert blickte zu den Gefährten an seiner Seite und sah voller Erstaunen, daß an Stephens Hemdkragen ein Perlmuttknopf prangte, in Gold gefaßt. Er blinzelte benommen und stieß eine weitere Qualmwolke aus, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Vaters Kragenknopf, dachte er, das Erbstück der Thompsons, also hat Stephe n ihn mir tatsächlich gestohlen, damals in Fort George? Doch auch dieser Gedanke schien ihm in diesem Moment ganz unwirklich, der Knopf auf Stephens zerfetztem Kragen wie ein väterliches Auge, das ihn starr und drohend fixierte. Robert wandte sich ab und sah wieder zu Ajkinsaj, der durch den Hof zwischen den Pyramiden schritt, auf den riesenhaften Kopf zu, im Takt der Trommeln, gefolgt von sechs niederen Priestern und ebenso vielen Mayajungen, die einbeinig hinter den Priestern hersprangen oder ihnen mit rudernden Armstümpfen folgten. Auch der Junge, der ihm vorhin die Zigarre gereicht hatte, war unter ihnen, zumindest schien es ihm so, auch wenn er nicht hätte sagen können, an welchen Einzelheiten er ihn wiedererkannte, an seinem traurigen Blick oder am Zucken seines Schenkelstumpfs, während er durch die Gasse der Priester sprang, auf den nebelgrauen Riesenschädel zu.
Zwei Schritte vor seiner Gottheit blieb Ajkinsaj stehen. Die sechs niederen Priester traten an ihm vorbei, Äxte in den Händen, mit geschwungenen schwarzen Klingen und Griffen so lang wie ein Männerbein. Die Trommeln verstummten. Aus dem torgroßen Maul des Idols drang ein gutturaler Laut, ein Gurgeln wie aus tiefster Kehle. Die Priester traten unter die Rüsselnase ihres Gottes, die Äxte geschultert, je zur Hälfte einander gegenüber, so daß drei von ihnen vor den herabhängenden Köpfen, die anderen drei vor der Hinterseite ihrer Opfer standen. Die wirrbärtigen Gesichter über ihnen rollten mit den Augen und schnappten qualvoll mit den Mündern, aber kein Laut drang hervor. Hinter dem Rücken Ajkinsajs drängten sich die verstümmelten Mayajungen zusammen, offenbar starr vor Anspannung und Angst. Der oberste Priester
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