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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Mienen sahen sie den verstümmelten Mayajungen zu, die sich noch immer kreuz und quer durch die Menge kämpften. Als die beiden ihre Köpfe zusammensteckten, hörte Robert, wie sie flüsternd den Namen ihres Gefährten nannten: Henry.
    Der Magen zog sich ihm zusammen. Durch irgendeinen unbegreiflichen Umstand hatten sie den kleinen Mestizen verloren, auf dem kurzen Weg von der Kammer, wo sie beide gelegen hatten, bis hierher auf den First der Ka'ana. Robert hatte mehrfach bei den grauen Priestern nachgefragt, die ihn und Henry hintereinander die Treppe heraufgetragen hatten, aber vergeblich: Die Priester Cha'acs hatten lediglich die Köpfe geschüttelt, mit starren Mienen. Entweder war Henry in einem günstigen Augenblick von seiner Trage geglitten und hatte die Flucht ergriffen, was jedoch äußerst unwahrscheinlich war, da er sich mit seiner Fußverletzung nur mühsam bewegen konnte. Oder aber er war von seinen Trägern buchstäblich verschleppt worden, auf Geheiß Ajkinsajs oder wessen auch immer - eine Möglichkeit, an die Robert nicht einmal denken konnte, ohne daß ihm übel wurde vor Sorge und Angst.
    Voller Unbehagen sah er auf dem weiten First umher, doch weder von Ixnaay noch von Henry war das mindeste zu sehen. In seinem Rücken spürte er keine Schmerzen mehr, nur eine Art Taubheit entlang der Wirbelsäule, dennoch beunruhigte diese unklare Verletzung ihn weit mehr, als er sich eingestehen mochte. Neuerlich zog er an der Zigarre, der Rauch schmeckte aromatisch und roch nach der Feuchtigkeit des Waldes, nach Pilzen in dampfendem Unterholz. Unruhig spähte er auf der weiten Fläche umher. Immer noch strömten weitere Maya auf das Dach der Ka'ana, doch es waren allesamt männliche Priester, in den grauen Gewändern Cha'acs. Enttäuschung überkam ihn, da er Ixnaay nirgends entdecken konnte, doch zugleich war er erleichtert, daß sie vorsichtig genug schien, dieses Versammlung ihrer erbittertsten Feinde zu meiden.
    Silberne Priesterin, Spionin der Liebe, Wanderin zwischen den Welten, dachte er. Wann immer Ixnaay vor sein geistiges Auge trat, verwirrten sich seine Gedanken und Gefühle, und er versank in einem Wirbel aus Sehnsucht und Sorge, süßer Hoffnung und bitterem Verdacht. Hatte sie nicht von ihrer Mauerluke aus den Wallach so beeinflußt - verschreckt, verzaubert -, daß er ausbrach und die Stele umriß? Trug also nicht sie die Schuld daran, daß er nun seinerseits wie zur Säule versteinert war, außerstande, sein Rückgrat zu bewegen? Aber sie würde ihn gesund machen, dachte er dann, und war es nicht just das, was er immer schon insgeheim ersehnt hatte: daß sie ihn heilte, die India seiner Träume, an Körper, Seele und Geist? Aber glaubte er denn an solche wundersame Heilung, hatte er nicht seit jeher empfunden, daß es nur eine wahrhafte Erlösung von Ängsten, Sorgen und Schmerzen gab - den eigenen Tod?
    »Puuroj! Puuroj!« Noch immer bewegten sich die kleinen Zigarrenträger durch die Menge, mit hellen, heiseren Stimmen ihr Räucherwerk anpreisend. Mittlerweile mochten es mehr als tausend graue Priester sein, die sich hier oben auf dem Dach der Ka'ana drängten. Es war eine gewaltige Fläche, wohl hundert auf fünfzig Schritte messend, turmhoch über Wald und Stadt. Vorhin, als er hier heraufgebracht worden war, über die breite Treppe im vorderen Teil des Palastes, hatte sich ihm ein überwältigender Blick auf die riesige Ruinenstadt geboten, die sich zwischen Bäumen, Buschwerk und Nebelschleiern bis zu allen Horizonten zu erstrecken schien. Jetzt allerdings war ihm der Ausblick auf Kantunmak und den grünen Ozean des Dschungels durch die Pyramiden und die Hunderte grauer Priester versperrt.
    Baumriesen mit malerisch verrenktem Astwerk krönten die drei Pyramiden, die vierzig Fuß in der Höhe messen mochten und sich inmitten des Firstes erhoben, ein wenig nach hinten versetzt. Die Baumwurzeln hatten die Tempel auf den Pyramidendächern umklammert und das Gemäuer stellenweise zermalmt. Früher einmal mochten Außentreppen und Fassaden mit feinem Stuck überzogen und mit leuchtenden Farben bemalt gewesen sein, doch die Farben waren längst verblaßt und der Verputz zu Boden gerieselt. Dennoch hatten auf den Stufen der Pyramiden, zwischen Steinbrocken und vermoderndem Laubwerk, die Priester höheren Ranges mit so feierlichen Mienen Platz genommen, als ob sie in einer wohlgepflegten Tempelanlage säßen, in der Blütezeit ihrer einst so glanzvollen Kultur. Ihr Ohrschmuck aus Silber und Jade

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