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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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gerieten, würden sie ihn ohne Skrupel ausliefern, entweder der Obrigkeit oder den Gewalten der Wildnis.
    Erst vor wenigen Minuten hatte er wieder mit dem Fernrohr in die Tiefe gespäht, aber der Platz zwischen den Hütten war seit längerem verlassen, und auch die starren Gestalten, die in jenem Winkel gelegen hatten, waren schon vor Stunden entfernt worden. Nur hin und wieder eilten noch Männer in kleinen Gruppen über den weiten Lehmplatz, Hämmer oder Sägen in den Händen. Auffällig war allerdings, daß dort unten niemand ohne Gewehr umherzugehen schien.
    Seit etwa einer Stunde kreisten am Himmel über dem Camp ein halbes Dutzend großer Vögel, schwarz gefiedert, mit roten, schauerlich plumpen Schnäbeln, Harpyien, wie Robert annahm. Alles sprach dafür, daß es sich bei den reglosen Gestalten, über denen vorhin die Trompetenklänge erschallt waren, um Leichname gehandelt hatte, Opfer eines Massakers, die nicht nur getötet, sondern überdies verstümmelt und auf bizarre Weise geschändet worden waren. Und doch sträubte er sich immer noch gegen diese Vermutung, auch wenn er spürte, daß es längst grausige Gewißheit war. Victoria Camp mußte überfallen worden sein, vergangene Nacht und höchstwahrscheinlich von Mayakriegern, die noch immer zu Tausenden tief im Dschungel lebten - »nackte Affen, blutrünstig und grausam«, wie Paul sich auszudrücken pflegte, »die wie Tiere zwischen den Ruinen ihrer Vorfahren hausen«.
    Vor der Macht und Pracht der einstigen Mayakönige, vor allem wohl vor ihrem märchenhaften Reichtum, empfanden Paul und Stephen eine Hochachtung, die Robert kaum weniger maßlos schien als die Verachtung, die sie gegenüber den heutigen Nachfahren des alten Volkes zur Schau trugen. Was aber konnte diese Nachfahren so sehr erzürnt haben, daß sie einen Überfall auf das Holzfällercamp mit seinen mehreren Hundert schwer bewaffneter Bewohner gewagt hatten? Und vor allem, durch welche List mochte es ihnen gelungen sein, die weißen Männer zu überrumpeln und wenigstens sechs von ihnen zu töten? Und zwar auf eine Weise zu töten, dachte Robert, und der Magen zog sich ihm zusammen, die beinahe noch gräßlicher schien als die Morde selbst, wie ein archaisches, unbegreifliches Ritual.
    Die Sonne war mittlerweile in den Zenit gestiegen, ebenso seine innere Unruhe. Er erhob sich, schob seine Uhr in die Hosentasche, die Pistole in den Gürtel und begann ziellos auf und ab zu gehen. Noch drei Stunden, beschloß er, würden sie warten, bis drei Uhr nachmittags, wenn die ärgste Hitze vorüber wäre, dann würde er mit Mabo und Henry den Abstieg ins Holzfällercamp wagen. Sie mußten herausfinden, was mit Stephen und Paul geschehen war, ob die Soldaten sich noch im Lager aufhielten und was sie im Schilde führten. Allerdings würden sie sehr auf der Hut sein müssen, damit sie nicht eben diesen Soldaten in die Arme rannten oder von den Bewohnern des Camps verraten würden. Der Mut wollte ihm schon wieder sinken, nie und nimmer könnte er eine solche Aufgabe meistern, dachte er, zaghaft und unbeholfen, wie er nun einmal war. Die Knie wurden ihm schon weich, wenn er nur über den Rand der Anhöhe schaute, auf den mit Buschwerk überwucherten Steilhang, der zum Camp hin abstürzte, tausend Fuß tief und so schroff, daß selbst eine Bergziege den Halt verlieren würde. Und er sollte dort hinab, auf Henrys widerstrebende Schultern gestützt? Und auch noch auf so schlauen, heimlichen Pfaden, daß kein Soldat Ihrer Majestät und kein wilder Indiokrieger ihn erspähte? Es war lächerlich, zum Verzweifeln lachhaft, sagte er sich, indem er vom Rand der Anhöhe zurückwich und einige Schritte nach links ging, wo die schädelgroßen Steintrümmer am Boden lagen, zu ungefährer Kreisform aufgereiht.
    Schon gestern abend, trotz seiner Erschöpfung, war ihm aufgefallen, daß diese Anordnung nicht natürlichen Ursprungs sein konnte. Jetzt ging er neben einem der rundlichen Steinbrocken in die Knie und fuhr mit der Hand darüber, um Staub und Schlamm zu entfernen. Der Brocken hatte in der Tat die ungefähre Form und Größe eines menschlichen Schädels, und es schien ihm, als wären Muster in den Stein gemeißelt, ein Strahlenkranz, darin ein Gesicht, düster blickend. Vielleicht die vergöttlichte Sonne, dachte er, aber der Stein war so verwittert, daß nichts Genaues zu erkennen war.
    Nun erst bemerkte er, daß im Gras zwischen den Steintrümmern Blumen in vielerlei Farben wuchsen. Ein süßer Duft ging von

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