Im Tempel des Regengottes
zu, behutsam balancierend, die Arme seitlich ausgestreckt, mit einer Anspannung, die noch in tausend Fuß Höhe zu spüren war. Es mußte ein Mayajunge sein, vielleicht elf, zwölf Jahre alt, die schwarzen Haare schulterlang, der schmale Leib nackt bis auf ein weißes Hüfttuch. So balancierte er mit tastenden Schritten über die Baumstämme, die dicht an dicht im Wasser trieben, gegeneinander schlingernd und stoßend. Eine schwimmende Brücke, aber tückisch schwankend und so glitschig, daß jeder Schritt der letzte sein konnte, denn wenn der Junge den Halt verlor und ins Wasser fiel, würde er zwischen den Baumstämmen zermalmt. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie der Junge sich Schritt um Schritt dem Wehr näherte, und jetzt glaubte er auch zu verstehen, warum sie ihn überhaupt dort hinausgeschickt hatten, in das tödliche Gemenge aus stampfenden Stämmen und schäumender Flut. Inmitten des Stroms hatte sich ein riesiger Baumstamm im Wehr verfangen, anstatt längs des Wehrs zur Uferlände zu gleiten, hatte er sich zwischen zwei Eisenzähnen verkeilt und versperrte wie eine Schranke allen hinter ihm herantreibenden Stämmen den Weg. Der Junge sollte das Hindernis offenbar beseitigen, dachte Robert, aber wie könnte er, ein halbwüchsiger Knabe, beinahe ein Kind noch, mit bloßen Händen diesen riesigen Stamm aus dem Wehr ziehen?
Während er noch überlegte, hatte der Junge das Wehr erreicht und trat auf das Eisengestänge, aus dem zehn Fuß hoch die Zacken in den Himmel ragten. Für einen Moment stand er einfach da, auf dem schmalen Grat inmitten der Flut, stoßweise atmend. Dann bückte er sich zu einer großen Kurbel, packte sie mit beiden Händen und begann sie zu drehen, so angespannt, daß sich die kleine Gestalt in Roberts Glas zusammenkrümmte. Mit jeder Drehung der Kurbel stieg ein eisernes Gattertor im Wehr etwas höher. Endlich gab das Gatter eine Öffnung frei, groß genug für den verfangenen Stamm, der mit Urgewalt hindurchstieß, einen Lidschlag später schon jenseits des Wehrs auftauchte und in der Strömung davonschoß, umhüllt von einem Strudel milchigweißer Gischt.
Gespannt wartete Robert, wie der Junge nun zum Ufer zurückbalancieren würde, über die Dutzende Stämme, die sich aufgestaut hatten und jetzt in Bewegung gerieten, eine ungeheure, im Wasser stampfende und stoßende Masse, die von der Strömung entlang des Wehrs zum Ufer geschoben wurde. Aber er kam nicht dazu, den Jungen länger zu beobachten, auf einmal erklang ein Trompetenstoß aus der Tiefe, so laut und unerwartet, daß er zusammenfuhr. Er schwenkte das Fernrohr auf den weiten Platz im Victoria Camp zurück, wo die Menge immer noch erregt durcheinanderlief, und von dort neuerlich zu jenem Ort am hinteren Rand, einer Stätte der Starre und Kälte, wie er nun dachte. Aus irgendeinem Grund war er sicher gewesen, daß der Trompetenstoß von dort ausgegangen sein mußte, und so war es auch: Sieben Männer standen dort im Karree, drei mit dem Rücken zu ihm, drei ihnen gegenüber. Der siebte stand vor den beiden Dreiergruppen, ein wenig abgerückt nach der Art eines Kommandeurs, das Kinn emporgereckt, die Trompete erhoben, aus der er nun abermals einige Töne hervorstieß, eine dumpf klagende, gleichwohl militärisch strenge Melodie. Erst in diesem Moment wurde Robert, dessen Gedanken immer wieder zu dem Jungen auf dem Wehr zurücksprangen, bewußt, daß die sieben Männer dort unten die britische Kolonialuniform trugen. Kein Zweifel, dachte er, auch die Anzahl stimmte, es mußten die Soldaten sein, die ihn verfolgten, auf Befehl des britischen Gouverneurs. Jetzt ließ der Kommandeur die Trompete sinken, die Soldaten schwenkten herum, alle sechs auf einmal, mit militärischer Präzision. Sie marschierten nach links ab und gaben den Blick auf jene Stätte der Starre und Kälte frei, und da setzte für einen Moment sein Herz aus.
Seine Hand begann zu zittern, so heftig, daß er längere Zeit nur ein Chaos zerstückter Bilder sah, die sinnlos im Rohr umherwirbelten. Dann endlich ließ das Zittern nach, doch weitere Augenblicke verstrichen, bis er jenen Ort unwirtlicher Stille wiedergefunden und das Glas neuerlich fokussiert hatte.
Dort unten am Rand des Platzes lagen, aufgereiht im Schatten des Schuppens, drei, vier, sechs Männer, alle auf dem Rücken, alle hellhäutig, und wo ihre Gesichter hätten sein sollen, war eine rötlichgraue Masse, aus der die Augäpfel hervorquollen und lotrecht ein leuchtend roter Rüssel
Weitere Kostenlose Bücher