Im Tempel des Regengottes
nun stell dir vor: Die fünf letzten von uns, die nach dieser Hatz wieder im Asyl der Barmherzigen Muttergottes eintrafen, bekamen keinen Brotkanten, nicht einmal Wassersuppe, sondern zehn bis zwanzig Stockhiebe. Und so ging es weiter, tagein, tagaus, bei Nebel, Schnee und Regen. Denn vor jedem Mittagsmahl ließen sie uns Lasten durch Gassen und Hinterhöfe schleppen, Steine oder sonstiges Gerumpel, wieder um die Wette, und wieder mußten die fünf letzten, die nach vollbrachter Plackerei ins Paradies zurückkamen, mit leerem Magen abziehen und mit blutigen Striemen auf dem Rücken.«
Erneut unterbrach sich Paul, er zog seinen Tabaksbeutel hervor und stopfte sich seine Pfeife, die er mit einem Schwefelholz in Brand setzte, ohne aufzusehen, scheinbar ganz auf sein Räucherwerk konzentriert.
Robert hatte seinem Bericht mit wachsendem Entsetzen zugehört, allerdings auch mit einigem Zweifel. Da Pauls Vertraulichkeit ihm immer unbehaglicher wurde, hoffte er nun im stillen, daß er endlich weitersprechen und zum Ende kommen möge, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Natürlich wußte er, daß diese Welt elender Armut existierte, selbst mitten im prunkenden London, dennoch schien es ihm möglich, daß Paul übertrieb. Er selbst war allerdings in Wohlstand aufgewachsen, von Kindermädchen behütet, an einer Privatschule unterwiesen, so daß er eigentlich kaum beurteilen konnte, ob solche märchenhaften Grausamkeiten tatsächlich vorkamen. Vielleicht aber hatte Paul nicht einmal übertrieben, dachte er dann. Sie beide mochten in derselben Stadt groß geworden sein, zur selben Zeit, nur wenige Meilen voneinander entfernt, und doch unterschieden sich die Welten, denen sie entstammten, kaum weniger als Charles Square und Victoria Camp.
Die Fackel neben ihnen in der Wandnische loderte, von draußen klangen, fern und gedämpft, die Geräusche des Unwetters herein. Paul zog an seiner Pfeife, drehte sich noch weiter zu Robert hin, stieß eine Qualmwolke aus und fuhr fort:
»Du fragst gar nicht, aus welchem Grund die christlichen Schwestern sich diesen Spaß, ich meine natürlich, solche Mühe mit uns machten? Nun, vielleicht liegt die Antwort auf der Hand: Die Schwestern der barmherzigen Maria sahen es als ihre Gottespflicht an, uns frühzeitig zu Laufburschen und Lastträgern abzurichten, damit wir möglichst bald unsere Brosamen selbst verdienen könnten.«
Er zog abermals an seiner Pfeife, die jedoch erloschen schien. Einen Moment lauschte er nach draußen, wo die Soldaten durch den Sturzregen traben mochten, oder in sich hinein, zu den fernen Erinnerungen, die für ihn noch immer so lebendig schienen.
»Stephen und ich«, sagte er endlich, »waren fünf oder sechs Jahre alt, als wir in diesem Garten Eden aufeinanderstießen. Wir spürten beide ganz instinktiv, daß wir die tagtägliche Barmherzigkeit nicht überstehen würden, wenn wir uns gegeneinander hetzen ließen, wie es der Plan der frommen Schwestern vorsah. Und so schlossen wir einen Bund, indem wir uns schworen, unsere Stärken füreinander einzusetzen, um unsere Schwächen möglichst auszugleichen oder doch zu verbergen. Daß der Bund bis heute gehalten hat, kannst du mit eigenen Augen sehen, und im Grunde beruht er auf einer einfachen Erkenntnis: Solange Stephe n, der stark und zäh wie ein Ochse ist, seine und meine Lasten schleppt, und solange ich, der schnell wie ein Windhund ist, meine und seine Strecken renne, sind wir unschlagbar.«
Nach diesen Worte verstummte Paul und sah ihn durchdringend an, und Robert erwiderte seinen Blick, ebenso starr, bis Paul die Lider senkte. Er wußte wahrhaftig nicht, was sich auf diese Geschichte erwidern ließe, er wünschte nur, daß Paul sie ihm niemals erzählt hätte, anvertraut oder aufgetischt, je nachdem. Einige Momente saßen sie noch nah beisammen, in unbehaglichem Schweigen. Dann endlich rückte Paul von ihm ab, klopfte die erloschene Pfeife an der Steinbank aus und lehnte sich zurück, so daß sein Gesicht aus dem Lichtkreis geriet.
Wahrscheinlich bereute er es schon, dachte Robert, ihm diese Geschichte erzählt zu haben, die, übertrieben oder nicht, doch jedenfalls etwas Beschämendes, ja Entblößendes hatte. Zugleich empfand er ein heftiges Unbehagen, wenn er sich die beiden Kindheitsfreunde vorstellte, den kleinen Stephen, schon damals eine massige, schwerfällige Gestalt, aber stark wie ein junger Stier, und den kleinen Paul, schwächlich, doch von sehniger Flinkheit, und dann ihren Schwur in all dem
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