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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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griff nach seinem Gewehr, das neben ihm auf der Bank lag, aber die Echse huschte an ihnen vorbei, jagte auf den Ausgang zu und verschwand in der Dunkelheit des vorderen Saals.
    Gedankenversunken sah Robert zu dem Türloch, durch das eben der Leguan verschwunden war. Millionen Pfund, dachte er, Reichtum und Geschmeide, das alles ließ ihn kalt. Nicht des Goldes wegen hatte er in London alles aufgegeben, eigentlich war es, was ihn betraf, sogar umgekehrt. Aus allem Reichtum hatte er sich herausgerissen, das elterliche Haus am Charles Square verlassen, um eine Welt zu finden, in der das Leben nicht durch Geld und Geschäft erstickt, durch Verstand und Apparate niedergedrückt wurde wie in der alten Heimat. Aber er spürte, daß Paul ihn nicht verstanden hätte, und so schwieg er.
    »Stephen und ich«, fuhr Paul fort, »haben allerdings eine Schwäche, die wir aus eigener Kraft nicht ausgleichen können. Wir sind ungehobelte Burschen, rundheraus gesagt, die nur mit Mühe Lesen und Schreiben gelernt haben, und deshalb benötigen wir als Helfershelfer einen wie dich, der die Schrift des alten Volkes entziffern kann. Denn inzwischen kennen wir zwar die ungefähre Lage des Schatzes, der aber ist an jenem unwegsamen Ort so sorgfältig versteckt, daß man ihn nur mit Hilfe eines uralten Lageplans finden kann. Just diesen Plan haben wir vorgestern von unserem Gewährsmann erhalten, aber er ist mit Mayaglyphen beschriftet, die du für uns entschlüsseln sollst, gegen gerechten Lohn.«
    Nun war es heraus, dachte Robert und spürte, wie ihm das Blut aus Stirn und Wangen wich. Auf der anderen Seite des Saales begann eines der Pferde zu schnauben, und Mabo erhob sich, um das Tier zu beruhigen. Wenn Paul und Stephen herausfanden, dachte er, daß er tatsächlich außerstande war, die Schrift der Alten zu entziffern, ja daß auf der ganzen Erde niemand dieses Kunststück vollbringen konnte und er sich nur im Rausch vor ihnen aufgespielt hatte, so würden sie ihn vor Wut über seinen Betrug mit bloßen Händen erschlagen. Ein Zittern überlief ihn, und im stillen pries er das matte Licht, das im Gewölbe herrschte und, wie er hoffte, seinen Zustand vor Paul verbarg.
    »Mir scheint, daß du noch immer zögerst«, sagte Paul, »und dich fragst, ob Stephen und ich Narren sind, die einer Phantasterei nachjagen, oder erfahrene Männer, die einen wohlüberlegten Plan verfolgen. Darum will ich versuchen, dir noch von einer anderen Seite begreiflich zu machen, um wen es sich bei mir und Stephen handelt.«
    Er sagte das in so ernstem Ton, als hätte er die andere, höhnische und verletzende Seite seiner Persönlichkeit für alle Zeiten begraben. Warum nur fühlte sich Paul gedrängt, ihn derart ins Vertrauen zu ziehen, fragte sich Robert, und empfand schon im voraus ein Unbehagen. Er hatte Vertraulichkeiten niemals geschätzt, von Geständnissen, dachte er, ging eine Klebrigkeit aus, die zwar für menschliche Nähe sorgte, in ihm aber vor allem den Wunsch erweckte, sich von diesem Anhaftenden rasch wieder reinzuwaschen. So saß er einfach da, im Schein der Fackelflammen, die im leichten Windzug tanzten, und wartete, daß Paul weitersprach.

8
     
     
    »Stephen und ich«, begann Paul, »kennen uns seit frühen Kindertagen, wir sind beide in London aufgewachsen, Axeton Street, falls dir der Name etwas sagt, das Asyl der Barmherzigen Muttergottes, ein Heim für Findelkinder und sonstige Waisen, über deren Eltern nichts bekannt ist.«
    Er unterbrach sich, zog ein Taschentuch hervor und schneuzte sich so geräuschvoll, daß die Pferde am anderen Ende des Saals mit nervösem Scharren auffuhren.
    »Es war das reine Paradies«, fuhr er fort, während er das befleckte Tuch zurück in die Hosentasche schob, »die vollkommene Seligkeit, wie sie allen Christenmenschen verheißen ist, die uns aber, aus Gnade, schon im Alter von fünf bis zehn Jahren geschenkt wurde. Zu fünfzig oder siebzig Würmern hausten wir in einem Saal, der mit Stroh ausgeschüttet und viermal kleiner als dieses Gewölbe war, und bekamen ärgeren Fraß als die magersten Schweine, Kartoffelschalen und schimmliges Brot, und noch diese Krumen durften wir uns auf paradiesische Weise verdienen. An jedem Morgen nämlich ließen uns die barmherzigen Schwestern um die Wette laufen, in dürftigsten Lumpen, treppauf und treppab, Straßen hinauf und hinunter, um irgendwelche angeblich dringenden Briefe, in Wahrheit leere, zusammengefaltete Papierfetzen, an vorbestimmten Adressen abzugeben. Und

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