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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Schmutz und Elend. Ihre Überlebenskumpanei, dachte Robert, die tatsächlich gehalten hatte, dreißig Jahre lang, und die beiden bis hierher getragen hatte, in den Dschungel von Britisch-Honduras, wo sie noch immer um den Anteil an Glück und Reichtum kämpften, der ihnen nach ihrer Überzeugung zustehen mochte.
    »Eine düstere Geschichte«, sagte er endlich und erkannte im gleichen Moment, daß er besser geschwiegen hätte. Doch dafür war es nun zu spät, und so leitete er, die Dinge noch verschlimmernd, einen überstürzten Themenwechsel ein. »Aber das ist lange her«, sagte er, »im Gegensatz zu den Todesfällen, die unten im Lager zu beklagen sind.«
    »Was für Todesfälle?« knurrte Paul, indem er von der Steinbank aufsprang.
    Durch seine unerwartete Wut eingeschüchtert, berichtete Robert nur mit vorsichtigen Worten von den sechs Leichnamen, die er im Fernrohr gesehen hatte und zu deren Verabschiedung offenbar der militärische Trompetentusch erklungen war.
    »Wenn die Indios hier draußen mit den Holzfällern im Krieg liegen«, fragte er, »werden sie sich nicht auch uns gegenüber feindselig zeigen?«
    Aber Paul winkte nur ab, und im Schein der Fackel sah Robert, in diesem Moment beinahe erleichtert, daß Pauls Mund sich in bekannter Weise spöttisch zusammenzog. »Keine Bange«, sagte er, »die nackten Krieger sind so ungefährlich wie Brüllaffen. Jedenfalls für Stephen und mich, und damit auch für dich, solange du unter unserem Schutz stehst.«
    »Aber sie haben die Männer dort unten nicht nur getötet«, erwiderte Robert, und ein Frösteln überlief ihn, »sondern ihre Leichname verstümmelt, auf eine Weise...«
    »Mummenschanz!« fiel ihm Paul ins Wort. Für einen Moment wirkte er irritiert, offenbar hatte er gehofft, daß Robert zumindest diese schauerlichen Details aus der Ferne entgangen wären. »Sie haben die Gesichter der Leichen wie Masken des alten Regengottes hergerichtet«, sagte er dann. »Als ob diese Affen überhaupt noch wüßten, was es mit den alten Göttern auf sich hat!« Er verschränkte die Arme vor der mageren Brust, und seine Mundwinkel zuckten höhnisch. »Und im übrigen, bei dem Scharmützel dort unten geht es nur um die Affenjungen, das hat mit uns gar nichts zu tun.«
    »Affenjungen?« wiederholte Robert.
    »Na, die Brut der nackten Wilden«, sagte Paul und spie sogar aus, vor Roberts Füße. »Sie werden unten am Wehr gebraucht, um die verkeilten Baumstämme zu befreien. Eine Arbeit, bei der sie, einer nach dem andern, ruckzuck zuschanden gehen.«
    Robert sah ihn nur an, von einer gräßlichen Ahnung ergriffen, die durch Pauls Tonfall noch verstärkt wurde. Pauls Stimme klang auf einmal so brüchig, als ob er eine Verkühlung erlitten hätte.
    »Wenn die Männer aus dem Camp Nachschub brauchen«, sagte er, »ziehen sie hinaus in den Wald und fangen ein Dutzend neue Affenjungen ein, das geht so schnell wie Bananenpflücken. Die Männer bringen sie ins Camp, wo sie, wenn sich ein Baumstamm verkeilt hat, sofort aufs Wehr hinausgetrieben werden. Damit sie auf den schwimmenden Stämmen balancieren können, müssen sie klein und leicht sein, am besten nicht älter als zwölf oder fünfzehn Jahre. Aber die meisten stellen sich ungeschickt an und rutschen früher oder später von den Stämmen ins Wasser. Dort drücken die stampfenden Bäume ihnen die Brust zusammen oder quetschen ihnen die Beine ab, was auf das gleiche hinausläuft: Für die Arbeit am Wehr sind sie dann nicht mehr zu gebrauchen.«
    Auch Robert hatte sich erhoben. Im Fackellicht stand er Paul gegenüber, vor seinem geistigen Auge wieder die kleine braune Gestalt, die er im Glas gesehen hatte, wie sie über die Baumstämme balancierte, von der Lände bis hinaus zum Wehr.
    »Die Männer unten im Camp wurden also aus Rache massakriert«, fragte er, »von Mayakriegern, deren Kinder am Wehr umgekommen sind?«
    Paul sah an ihm vorbei, anscheinend tief in Gedanken.
    »Rache, na klar«, sagte er, »aber das ist noch nicht alles: Sie haben außerdem ihre gesamte Brut aus dem Camp befreit.«
    Bei diesen Worten trat jedoch ein eigentümlicher Schimmer in seine Augen, als ob irgend etwas in ihm bei der Befreiung der »Affenjungen« eine stille Genugtuung empfände.

9
     
     
    Gegen halb sechs Uhr nachmittags gab Paul das Kommando zum Aufbruch. Nach ihrem langen Gespräch war er wortkarg geblieben, in sich gekehrt, als ob er seine Vertraulichkeit tatsächlich schon bereute oder als sorge er sich wegen der Gefahren des

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