Im Tempel des Regengottes
nicht ein einziges Mal beistehen können - weder als seine falschen Freunde ihm ausgerechnet das störrischste Pferd zuwiesen, noch als der bedauernswerte Mr. Thompson wieder und wieder von seinem Wallach gefallen war. Schließlich hatte sie sich auf dem gräßlichen Knüppelpfad selbst nur mit Mühe auf ihrem Gaul halten können, dabei war sie, dank Mr. Sutherlands Großmut, eine geübte Reiterin.
Die Kehle wurde ihr eng. James Sutherland, dachte sie, niemals in meinem Leben werde ich Sie Vater nennen, Sie feiger, kaltherziger Schuft. Und doch werde ich Ihnen zeitlebens dankbar sein für die bemessene Großzügigkeit, mit der Sie meine Erziehung ermöglicht haben.
Die schwarze Flut unter dem Floßrumpf gurgelte und brauste, und zwei Fuß über ihr seufzte Mr. Thompson im Schlaf. Bis jetzt, dachte Helen, hatte sie als sein Beschützer kläglich versagt, ja bisher, an ihrem ersten Tag in der Rolle des Dieners Henry, war sie kaum imstande gewesen, auch nur die einfachsten Pflichten eines Pferdeburschen zu erfüllen. Wieder lauschte sie hinaus in die Nacht, die von einschüchternden Geräuschen erfüllt war, Tierrufen, lockend und klagend, dem Knacken von Ästen und dem Tappen und Scharren von tausenderlei Tatzen im Unterholz. Wie lange würde es dauern, bis sie mit dieser ungewohnten Umgebung einigermaßen zurechtkam? Natürlich hatte sie gewußt, daß hier draußen in der Wildnis ganz andere Gesetze herrschten als in Fort George. Aber zu wissen, daß es diese andere Welt gab, hieß noch lange nicht, ihre Wirklichkeit mit eigenen Sinnen zu spüren: den modrigen Geruch des Wassers, die Laute des Waldes, die samtene Wärme der nächtlichen Luft. Nie zuvor in ihrem ganzen, zweiundzwanzigjährigen Leben hatte sie sich so durcheinander und zugleich so lebendig gefühlt wie in dieser Nacht mit Mr. Robert Thompson und all den anderen auf dem stromabwärts stampfenden Floß. Und niemals vorher, nicht vor einem Jahr, nicht einmal vor einer Woche, hatte sie ernsthaft in Betracht gezogen, ohne Abschied das Haus des ehrenwerten Mr. Sutherland zu verlassen, in dem sie zwanzig Jahre lang aufgewachsen war. Zwei Jahrzehnte, in denen Helen Har mess niemals auch nur im Traum geahnt hatte, daß der steife und verschlossene James Sutherland tatsächlich ihr Erzeuger war.
Bei diesem Gedanken erschien vor ihrem geistigen Auge unversehens die hagere Gestalt Mr. Thompsons. Vorhin hatte sich Robert in aller Unschuld seiner Kleidungsstücke vor ihr entledigt und sie - vielmehr den Burschen Henry - aufgefordert, es ihm gleichzutun und ihrer beider Leinenzeug im trüben Zisternenwasser zu waschen. Sie errötete noch bei der Erinnerung an diesen »Zwischenfall«, der so leicht vorauszusehen war und sie doch gänzlich überrumpelt hatte. Wie lange würde es ihr gelingen, sich vor ihren Begleitern zu verstellen? Die drei weißen Männer ließen sich sicherlich am leichtesten täuschen, auch Mr. Thompson, der sie in all den Wochen im Park des Gouverneurs kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Aber wie stand es mit der blonden Frau, die Mr. Mortimer so unerwartet mit an Bord genommen hatte (eine unangenehme Überraschung anscheinend auch für den füchsischen Mr. Climpsey, der seit Stunden wie verholzt am hintersten Ende des Floßes saß)? Und hatte nicht Mabo ihr sogar schon nachdenkliche Blicke zugeworfen, als ahnte er zumindest, daß mit dem Burschen Henry irgend etwas nicht in Ordnung war?
Aber ihr blieb gar keine Wahl mehr, dachte Helen, jetzt, da sie sich Hals über Kopf in das Abenteuer ihres Lebens gestürzt hatte. An der Seite von Robert Thompson und seiner Gefährten würde sie immer tiefer in den Regenwald vordringen - nicht auf der Suche nach einem Schatz der alten Maya, sondern um nach ihren eigenen Wurzeln zu graben, nachdem sie vor sechs Wochen jene schändlichen Zeilen von Mr. Sutherlands Hand gelesen und im gleichen Moment erkannt hatte, daß ihr ganzes bisheriges Leben auf sorgsam verschleierten Lügen begründet war.
Während das Floß mit dem flackernden Bugfeuer weiter stromabwärts durch Nacht und Wildnis schlingerte, lehnte sich Helen Harmess gegen den weichen Packen, auf dem Robert Thompson schlief. In Gedanken kehrte sie einmal mehr in ihre Vergangenheit zurück, in die durch und durch zwielichtige Welt, wie sie sich sagte, in der sie aufgewachsen und aus der sie heute Hals über Kopf geflohen war.
2
»Dein Vater, Kindchen? Bei der heiligen Jungfrau, nach dem haste mich bald mal genug gefragt.«
Helen selbst
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