Im Tempel des Regengottes
ehrenwerten Mr. Sutherland, hoher Beamter in Diensten des britischen Gouverneurs, umgeben von all der Bequemlichkeit und Kultiviertheit, die ein solches Anwesen bot. Aber sie besaß in diesem Haus keinerlei Rechte, sie war nur geduldet, die uneheliche Tochter von Dorothy Harmess, die James Sutherlands Haushalt besorgte. Sie durfte die »Schule für höhere Töchter Britanniens« besuchen, aber sie selbst war weder eine höhere noch auch nur eine britische Tochter, sie war der Bastard eines irischen Matrosen und einer matronenhaften Mestizin. Sie hatte den falschen Namen, die falsche Hautfarbe, die falsche Herkunft. Einzig der christlichen Gnade von James Sutherland war es zu verdanken, daß sie und ihre Mutter nicht in einer Holzhütte drüben in den stinkenden Gassen von Belize Town vegetierten, sondern zwei Mansarden unter dem Dach von Sutherland House bewohnen durften, wo Helen seit ihrem zehnten Jahr sogar ein eigenes Schreibpult und ein von Mr. Sutherland persönlich bestücktes Bücherregal besaß. Zu jedem neuen Lebensjahr schenkte er ihr ein neues Buch, in graues Leinen gebunden, und genauso verhielt es sich in allem mit seiner Großzügigkeit: Sie war steifleinen, erzieherisch karg und stets ein wenig beschämend.
Seit jeher war Helen daran gewöhnt, allein zu sein, eine Außenseiterin, von ihren Mitschülerinnen ebenso gemieden wie von den dunkelhäutigen Dienstmädchen in Sutherland House. Sie gehörte nicht dazu, nicht in diese Welt und nicht in jene, sie war nicht Milch und nicht Kakao. Im Schulzimmer saß sie allein an einem Pult, in einem Winkel abseits von den weißen Mädchen, denen »der Geruch von Indianerhaut« nicht zuzumuten war. Sie lernte gierig, unermüdlich, wie eine Verdurstende trank sie den Lehrstoff in sich hinein. Die Lehrerinnen behandelten sie mit kalter Korrektheit, aus Respekt
vor Mr. James Sutherland, dessen Entscheidung sie insgeheim mißbilligten. Niemals wurde Helen in die Spiele ihrer Mitschülerinnen einbezogen, in ihre Freundschaften, Geheimnisse, ihr fröhliches Getuschel. In den Ferien gingen die Schülerinnen mit ihren Familien und Kindermädchen auf märchenhafte Reisen nach England oder Nordamerika, während Helen bei Mama Doro in der Küche saß. An Weihnachten und Geburtstagen wurden die Mädchen mit kostbaren Geschenken überhäuft, glitzernden Kleidern, Hüten und Lackschuhen, die sie einander in den Unterrichtspausen vorführten. Währenddessen stand Helen in ihrem grauleinenen Quäkerkleid abseits und starrte sich die Augen nach all der Pracht aus.
Anfangs hatte sie noch versucht, das Vertrauen ihrer Mitschülerinnen zu erringen, doch die goldhaarige Bosheit und alabasterblasse Arroganz waren wie Marmormauern, an denen sie wieder und wieder abprallte. Acht endlose Jahre besuchte sie die »Anglikanische Schule für höhere Töchter Britanniens«, und niemals richtete eine Mitschülerin auch nur ein einziges freundliches Wort an sie. Verletzende, höhnische, demütigende Worte, das schon. Und Blicke, kalte, feindselige, abschätzende, verachtungsvolle Blicke, aber niemals, in all den Jahren niemals auch nur ein Lächeln, ein ermutigender oder anerkennender Blick.
In den Büchern, die Mr. Sutherland ihr überreichte, las sie von weißen Helden und bleichhäutigen Edelfrauen. In Sutherland House gingen die wohlgeborenen Freunde des Hausherrn ein und aus, allesamt hochgewachsene, kupferhaarige, fahlwangige Gentlemen von kultiviertestem Gebaren und unerschütterlicher Selbstsicherheit. Zuweilen veranstaltete Mr. Sutherland Feierlichkeiten, zu welchen die edelsten Familien von Fort George geladen waren: britische Ladys von milchiger Grazie, umgeben von feenhaften Töchtern und hochnäsigen Söhnen, die Helen, hinter einem Vorhang verborgen, aus der Ferne bestaunte.
In ihrem fünfzehnten Lebensjahr glaubte sie ihre Einsamkeit nicht länger zu ertragen. Sie spürte immer deutlicher, daß in ihrer Welt irgend etwas ganz und gar falsch war, aber das Lügengefühl blieb ungreifbar, ein Gespenst, das ihr auf Schritt und Tritt nachschlich. Heimlich, da sie wußte, daß Mr. Sutherland diese »Erniedrigung« mißbilligen würde, versuchte Helen damals, sich den indianischen Dienstmädchen enger anzuschließen. Unter dem Kommando von Mama Doro arbeiteten wenigstens ein Dutzend Frauen und Mädchen in Küche, Keller und Kammern von Sutherland House. Die meisten von ihnen kamen frühmorgens zur Arbeit und kehrten abends in ihre Hütten jenseits des Haulover Creek zurück. Sofern
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