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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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ihm lauerte wie ein sprungbereites Raubtier, aber heute fühlte er sich nicht mehr imstande, die Wirklichkeit gleich welchen Schreckens zu ertragen. Mit behutsamen Schritten kehrte er zu seinem Platz zurück, dem unförmigen Packen, der groß genug war, ihm als Lagerstatt zu dienen. Eben wollte er sich darauf ausstrecken, da wandte sich die Gestalt vorn am Feuer zu ihm um, den Kopf noch immer mit der Kapuze verhüllt. Neben ihr stand Stephe n, hoch aufgerichtet, eine lange Stange in Händen, mit der er ab und an ihren Kurs korrigierte. Auf einmal warf die sitzende Gestalt ihre Kapuze ab, und im Schein des Feuers sah Robert ein junges Frauengesicht, lächelnd, mit heller Haut und grünen, katzenhaft schrägen Augen unter einer Flut blonden Haars.
    »Guten Abend«, sagte er leise, mit einer angedeuteten Verbeugung, die ihm selbst hölzern schien.
    Die Frau lachte auf, und im gleichen Moment wandte sich Stephen Mortimer um, ein Riese der Nacht, auf seine klobige Stange gestützt, umtanzt von Rauch und Funken. »Darf ich vorstellen«, rief er mit dröhnender Stimme, »Schwester Miriam - ehrwürdige Nonne vom Orden unserer Barmherzigen Muttergottes!« Er fuhr ihr mit der Hand durch das üppige Haar, eine vertraute Geste, wie es Robert schien, und dann lachte Stephen so schallend, daß das Floß erbebte und der ganze nächtliche Dschungel widerhallte.
    Aus Höflichkeit stimmte Robert in das Gelächter ein, dabei war ihm mehr als unbehaglich zumute. Lächelnd sah die Frau zu Stephen auf, und als Robert rasch über seine Schulter blickte, wandte ihnen Paul noch immer den Rücken zu und schaute starr nach rückwärts, auf den schwarzen Strom.

DREI

1
     
     
    Das Floß stampfte auf den Wellen, und die Flammen des Bugfeuers tanzten im gleichen ungebärdigen Takt. Längst waren die Rufe und Schüsse hinter ihnen verhallt, doch kaum weniger furchterregend klangen das Gurgeln der Strömung und die vielfältigen Laute des nächtlichen Waldes.
    Stephen Mortimer, der noch immer hoch aufgerichtet am Bug stand, ein massiger Schatten am Rand der Nacht, stieß einen Ast in die Flammen, daß die Funken stoben. »Das war verteufelt knapp, zum Donner! Noch so ein Patzer, und wir sind geliefert - wenige Schritte vor dem Ziel!«
    Die Frau neben ihm am Feuer gab leise Antwort. Ihre Worte waren nicht zu verstehen, aber ihre Stimme klang so herausfordernd wie Mortimers grollender Baß.
    Nie zuvor in ihrem Leben hatte Helen sich auch nur annähernd so sehr geängstigt. Und niemals vorher war sie derart stolz auf sich selbst gewesen, ihre Entschlossenheit und ihren Mut.
    Aus der Wildnis zu ihrer Linken erschallte ein keckernder Warnoder Lockruf, der sogleich in einem Klagelaut erstarb. Für einen Moment hielt sie den Atem an und spürte, wie ihr Herzschlag in ihrem ganzen Körper pulsierte. Wenn sie mir auf die Schliche kommen, dachte sie, wenn Mortimer oder diese Miriam auch nur einen Verdacht gegen mich fassen, ist mein Leben keinen Penny mehr wert. Sie schloß die Augen. Wieder sah sie die gräßliche Szene vor sich - wie die beiden Holzfäller Mabo gepackt hatten, wie Climpsey ihnen in den Weg getreten war, das Gewehr im Anschlag, wie der bärtige Hüne zurückgeschleudert worden war, einen Krater in der Stirn, aus dem Blut hervorschoß.
    Rasch öffnete sie wieder die Augen und sah über den Rand des Floßes hinaus auf den nachtschwarzen Strom. Und dabei bin ich ihm gefolgt, um ihn zu beschützen, dachte sie, vor äußeren Gefahren und vor sich selbst - zumindest war es einer der beiden Gründe, die sie zu diesem tollkühnen Schritt bewogen hatten. Sie duckte sich tiefer in den Schatten des großen Packens, auf dem Robert Thompson ausgestreckt lag, anscheinend in tiefem Schlaf. Ich und ihn beschützen! Tatsächlich hätte er mehr als einmal Schutz und Hilfe benötigt. Um seine Reitkünste war es miserabel bestellt, und die ehrenwerten Gent lemen Mortimer und Climpsey rührten keinen Finger, um die Lage ihres Gefährten zu erleichtern. Im Gegenteil, sagte sich Helen Harmess, die erst am gestrigen Morgen, einer möglicherweise fatalen Eingebung folgend, den Namen Henry O'Rooney angenommen hatte, um sich Robert Thompson als angeblicher Reitbursche anzudienen: Ganz im Gegenteil ließen Mr. Mortimer und insbesondere Mr. Climpsey keine Gelegenheit aus, ihm das Leben noch ein wenig schwerer zu machen.
    Ein Glück nur, daß er ihren Hohn und ihre Tücke meistens zu übersehen schien. Sie selbst nämlich, Helen Harmess alias Henry, hatte ihm bisher

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