Im Tempel des Regengottes
verliebten, in Mestizinnen oder reinblütige Indias. Aber diese Liebschaften pflegten sich durchweg im geheimen abzuspielen, da Heiraten zwischen Briten und »getauften Wilden« als gänzlich undenkbar galten und jeder Soldat oder Kolonialbeamte durch einen solchen Schritt seinen Ruf ruiniert, seine Laufbahn zerstört, seine bürgerliche Existenz untergraben hätte. Nahezu alle Mischlinge, die aus solchen Affären hervorgingen, waren folgerichtig Bastarde, verdammt zu einem Leben in vaterloser Armut, in den Holzhütten der Arme-Leute- Gassen von Belize Town, obwohl ihre Erzeuger allesamt respektable Soldaten, Beamte oder sogar Offiziere Ihrer britischen Majestät waren. So war auch Dorothy Harmess in einer jederzeit von Gestank und Geschrei erfüllten Hütte aufgewachsen, unweit der Swing Bridge, als Tochter einer India, die auf die heuchlerischen Liebesschwüre eines königlichen Grenadiers hereingefallen war. Und dieselbe Dorothy Harmess, zu jugendlicher Schönheit herangereift, hätte um ein Haar das ungeheure Glück besessen, diesem Schicksal ihrer eigenen Mutter und Tausender ihrer Leidensgenossinnen zu entgehen?
Ein Mädchen aus den Elendsgassen von Belize Town, mittellos, ungebildet, in bunte Lumpen gewickelt - und dann auf einmal die sommersprossige Hand des schmucken Matrosen O'Rooney, der sie mit heiterem Lächeln zu sich emporzog?
Es war alles andere als wahrscheinlich, sagte sich Helen damals, verbot sich aber sogleich, jemals wieder ihren Zweifeln Gehör zu schenken. Sie brauchte diese Geschichte, Wort für Wort und Satz für Satz, und sie brauchte vor allem ihren eigenen Glauben an die Wahrheit dieser Geschichte, um das in ihrem Innern lauernde Lügengefühl zu bannen.
Dieser eine Punkt in der mütterlichen Liebesoper, beschloß Helen daher im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren, mochte sich in Mama Doros Erinnerung ein wenig verklärt haben, aber was machte das für einen Unterschied? Tatsache war jedenfalls, daß Mickey O'Rooney noch im gleichen Jahr 1855 Dorothy Harmess die Ehe versprach, und Tatsache war allerdings auch, daß die königliche Fregatte St. Mary schon sieben Wochen später mitsamt einem halben Hundert mondhäutiger Matrosen nahe Hispaniola unterging. Dorothy Harmess' Liebesoper war ausgespielt. Sieben Monate danach brachte sie den Bastard Helen zur Welt, »und nur der christlichen Gnade unseres Herrn, mein Kindchen, des ehrenwerten Mr. Sutherland, Gott schütze und segne ihn, haben wir's zu verdanken, daß wir zwei beiden nich' wie der selige Mickey abgesoffen sind«.
3
Mitternacht mochte längst vorbei sein, über Fluß und Wald glitzerte der Sternenhimmel, viel heller und majestätischer als über der Stadt. Der volle Mond schwebte über den Wipfeln, deutlich waren die Umrisse der sitzenden Mondfrau zu erkennen und des Kaninchens auf ihrem Schoß. Menschen und Tiere auf dem Floß schienen allesamt zu schlafen, nur Stephen Mortimer stand noch immer neben dem zusammengesunkenen Bugfeuer, die Flößerstange umklammernd, und steuerte ihr Schiff durch die Nacht.
Abermals glitten Helens Gedanken in die Vergangenheit zurück, zu Dorothy Harmess und der unveränderlichen Geschichte ihrer Liebe zu Mickey O'Rooney.
»Von Papa Mick haste den Sahneton, Kleines: Milky, so nannte ich ihn immer, und Brownie hieß ich für ihn. Und was kommt dabei raus, wenn du Milch und Schokolade zusammenschüttest: nix Halbes und nix Ganze s, Kindchen, ein Balg wie Milchkakao: zu dunkel für Milchliebhaber, zu milchig für Schokoladenfreunde.«
An dieser Stelle pflegte sie Helen zwar die hellbraune Wange zu tätscheln, was aber die niederschmetternde Wirkung nur noch erhöhte. Nichts Halbes und nichts Ganzes! So, genau so hatte sie sich in der Tat ihr Leben lang gefühlt. In der »Anglikanischen Schule für höhere Töchter Britanniens«, Elizabeth Street im Herzen von Fort George, die sie dank Mr. Sutherlands Großmut besuchen durfte, war Helen Harmess immer nur die braune Gossengöre neben all den wohlgeborenen Mädchen mit der kostbar blassen Alabasterhaut. Wie sehr sie ihren dunklen Balg, ihre schwarzen Murmelaugen, den dicken schwarzen Haarschopf gehaßt hatte, wie sie sich selbst verachtet und mit brennender Sehnsucht gewünscht hatte, so blauäugig und engelshaarig, so hochgewachsen und zartgliedrig wie ihre Mitschülerinnen zu sein!
Irgendwann aber, in ihrem dreizehnten oder vierzehnten Jahr, hatte sie eingesehen, daß alles Wünschen vergeblich war. Sie lebte zwar im Haus des
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