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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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hatte lange Zeit nicht verstanden, warum sie die immer gleiche Geschichte immer aufs neue hören wollte, seit ihrer frühesten Kindheit und noch als junge Frau von sechzehn, achtzehn Jahren. Es kam einfach über sie, aus heiterem Himmel, dieses Lügengefühl, wie sie es für sich zu nennen pflegte, und dann mußte sie die Geschichte von Mickey O'Rooney hören, auf der Stelle, zum tausendundersten Mal. Als ob ohne diese Geschichte, oder wenn sie aufhörte, an deren Wahrheit zu glauben, ihre Welt in sich zusammenstürzen, der Boden unter ihren Füßen sich öffnen und sie augenblicklich verschlingen würde.
    Mit einem schiefen Lächeln, in dem sich Gutmütigkeit und Überdruß mischten, ließ sich Mrs. Dorothy Harmess - »Mama Doro«, wie Helen sie bis vor wenigen Wochen genannt hatte - dann meist auf einem Schemel in der Küche nieder, ein Wischtuch in der Hand, die blütenweiße Schürze um den ausladenden Leib gespannt. »Sein Name war Mickey O'Rooney, Kindchen, und du kannst mir glauben: Mickey war ein Bild von einem Mann.«
    Die Geschichte begann immer mit diesen Worten, und auch wenn Mrs. Harmess sie im Lauf der Jahre ein wenig aufpoliert und um unerwartete Einzelheiten erweitert hatte, blieb sich ihr Wortlaut über zwei Jahrzehnte hinweg doch im großen und ganzen gleich. Sie war tatsächlich wie ein Bild, nach dessen gemalten Gegenständen man vergeblich zu greifen versuchte, wie eine Maske, die man Tag und Nacht beobachtete, in der stets aufs neue enttäuschten Hoffnung, daß die starren Züge sich eines Tages regen würden. Und wie seine Geschichte blieb sich auch Mickey O'Rooney während all der Jahre und Jahrzehnte immer gleich: ein Heiligenbild, aus dem kargen Lehm der Imagination von Mrs. Harmess geschaffen und mit Helens Sehnsucht und Verehrung schreiend bunt bemalt.
    »Das war im Sommer '55, Kindchen, als ich noch 'n junges Ding war, hübsch und heiter wie heute du.« Helen fand keineswegs, daß sie von sonderlich heiterer Natur war, geschweige denn von anziehendem Äußeren, aber sie verkniff sich jeden Widerspruch, der ihre Mutter doch nur von der Geschichte ablenken würde. »Und Mickey O'Rooney war 'n Mann, der sein Mädchen zum Lachen bringen konnte. Mit einer Statur wie 'n Zugochse und dem Herz eines Gassenjungen: Da haste meinen Mickey, Kindchen.«
    Von ihrer eigenen Erinnerung angerührt, pflegte sich Dorothy Harmess, oberste Besorgerin und Schlüsselgewaltige im Haus des ehrenwerten James Sutherland, an dieser Stelle über die Augen zu wischen, ehe sie mit den immer gleichen Worten fortfuhr. »Mickey O'Rooney diente als Matrose auf der Fregatte St. Mary, die Anfang Juni '55 am Victoria-Kai von Fort George längsseits drehte. Nenn es Fügung oder Schicksal, Kindchen, jedenfalls stand die dumme kleine Doro damals an der Hafenmauer, als die Matrosen Ihrer Majestät einer nach dem anderen an Land stolziert kamen. Aber deine Mama, Kindchen, hatte von Anfang an nur Augen für Papa Mick.« Sie zog Helen an sich und strich ihr gedankenverloren über das störrische schwarze Haar. »Und O'Rooney, der sommersprossige Hüne mit kupferroter Mähne: Stocksteif blieb er auf der Landungsbrücke stehen, Kindchen, und glotzte mich an, mit offenem Maul, wie 'n Tapir bei Vollmond. Dann warf er sich seinen Seesack über die Schulter, stapfte auf mich zu und packte meine kleine braune Tatze mit seiner riesengroßen weißen Hand. Ganz ergriffen hielt Papa Mick mein Händchen fest und sagte mit seiner dröhnenden Stimme, so laut, daß ganz Fort George seine Worte hören konnte: ›Bei allen Heiligen, kleine Misses, du und ich sind für'nander gebaut.‹«
    In den ersten Jahren hatte Helen meist vor Begeisterung in die Hände geklatscht, wenn Mama Doro diesen dramatischen Prolog der elterlichen Liebesoper zum besten gab. Und noch heute sah sie das theatralische Bild ganz genau vor sich, das ihrem Geist durch tausendfache Wiederholung eingemeißelt worden war: der rostblonde Hüne O'Rooney, auf der Landungsbrücke erstarrend. Die kakao häutige, damals schlanke Dorothy Harmess, an die Kaimauer geklammert, während ihre Blicke sich ineinander bohrten. Und dann Mickeys romantisches Bekenntnis, vor aller Augen und Ohren, auf den ersten Blick habe er sich unsterblich in Dorothy verliebt.
    Doch irgendwann um ihr dreizehntes oder vierzehntes Lebensjahr herum begann Helen an diesem bühnenreifen Auftritt O'Rooneys zu zweifeln. Sicher geschah es nicht selten in der Kolonie, daß britische Männer sich in dunkelhäutige Frauen

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