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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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sie überhaupt ein wenig Englisch verstanden, befleißigten sie sich eines krausen Kauderwelschs aus aufgeschnappten britischen Floskeln und ihren eigenen Dialekten, die für Helen anfangs wie tierhaftes Grunzen, Schnalzen und Tirilieren klangen.
    Diese kleinwüchsigen, dunkelhäutigen Küchen-und Kammermädchen stießen sie zwar nicht zurück, wie Helen es von ihren britischen Geschlechts-und Altersgenossinnen gewohnt war, doch auch mit ihnen wurde sie nie wirklich vertraut. Dem äußeren Anschein nach waren es allesamt getaufte Christinnen, aber ihre schräggeschnittenen Augen schienen unverändert eine ganz und gar unchristliche Welt zu erblicken, eine düster geheimnisvolle Welt, die Helen mehr und mehr faszinierte. In dieser Welt herrschten keine Sutherlands und auch keine milchhäutige Mutter Maria und ihr totenblasser Gottessohn, sondern ein Gewirr mürrischer Göttertyrannen, die das Schicksal jedes einzelnen bis ins kleinste bestimmten, und rätselhafter Zauberrituale, durch die man die Götter gewogen stimmen und sogar Unbill auf mißliebige Mitmenschen herabbeschwören konnte.
    In kürzester Zeit lernte Helen, in der Sprache des alten Volkes zu radebrechen, einem melodischen Singsang namens Quiché.
    Damals wuchs in ihr eine wilde Sehnsucht, zu diesen Frauen und Mädchen zu gehören, in ihre Welt einzutauchen, in der praktisch alle Gespräche, Sorgen oder Hoffnungen um Opfer und Orakelsprüche, Liebes-oder Heilzauber kreisten. Aber zugleich blieb ihr ständig bewußt, selbst in ihren sehnsuchtsvollen Tagträumen, daß sie dieser dunklen Welt der Armut und archaischen Götter ebensowenig angehörte wie der Sphäre goldhaarigen Wohlstands und mondbleicher Arroganz.
    So wenig und so sehr. Immer zu viel und niemals genug. Da nicht und dort nicht, nicht Milch und nicht Kakao. Sie kannte die Götter der Briten und der Maya, aber sie selbst glaubte weder an Jesus, den weißen Erlöser, noch an Cha'ac, den roten Regengott, und sie selbst murmelte weder Vaterunser noch Zaubersprüche in melodischem Quiché. Helen war noch keine achtzehn Jahre alt, als ihr klar vor Augen stand, wozu sie verurteilt worden war. Ihr Leben lang würde sie in dem schmalen Grenzland wandeln, in dem nicht Tag und nicht Nacht herrschte, nicht Lachen und nicht Weinen, nicht Reichtum und nicht Armut, nicht Traum und schon gar nicht Wirklichkeit.
    Nur eines verstand sie nicht, zweiundzwanzig Jahre lang nicht, so sehr sie sich auch Hirn und Herz zermarterte: warum und von wem sie zu einem solchen Leben im Zwielicht verurteilt worden war.

4
     
     
    Der Mond war bereits wieder im Ozean des Dschungels versunken, doch noch immer umgab sie dicke Dunkelheit. Das Feuer war mittlerweile gänzlich erloschen, und es schien Helen, daß auch Mr. Mortimer seinen Flößerposten verlassen und sich schlafen gelegt hatte. Zu hören war jedenfalls nichts mehr, kein Staken, keine Schritte oder sonstigen Laute vom Bug her. Trieben sie etwa steuerlos durch Flut und Nacht?
    Einen Moment lang lauschte sie in die Finsternis, dann lehnte sie sich wieder zurück, gegen den weichen Baumwollpacken, auf dem Mr. Thompson seit Stunden ruhte. Sicherlich hatte Mr. Mortimer Sorge getragen, beruhigte sie sich, daß dem Floß und den Reisenden nichts Übles widerfahren konnte. Denn so wenig Vertrauen sie in Anstand und Redlichkeit der Gentlemen Climpsey und Mortimer setzte, so hoch schätzte sie andererseits deren Gerissenheit und Erfahrung als Abenteurer ein.
    Helen gähnte und rieb sich die Augen. Auch sie spürte jetzt die Müdigkeit, aber zugleich wußte sie, daß sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden wurde - zu sehr war sie immer noch aufgewühlt von Erinnerungen und den Ereignissen der jüngsten Zeit. Und unmittelbar bei ihr, so nah, daß sie ihn mit der Hand hätte berühren können, seufzte Mr. Thompson im Schlaf.
    Robert Thompson war gewiß kein Mann wie Mickey O'Rooney, dachte sie lächelnd, kein irischer Draufgänger mit Kupfermähne, in den eine Frau sich auf den ersten Blick verliebte. Dafür hatte er allerdings den Vorzug, ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut zu sein und nicht nur ein bunt lackiertes Bild, geschaffen aus der Phantasie von Mama Doro. Und hatte er nicht vorhin erst dem bedauernswerten Mabo, der gedemütigt und entblößt am Boden lag, wie ein heiliger Samariter sein eigenes Hemd geschenkt? Auf den ersten Blick, sagte sich Helen, mochte Mr. Thompson mit seiner Zerstreutheit
    und seinem hölzernen Gebaren nahezu lachhaft wirken, wie ein

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