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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Lügengefühl hatte recht behalten. Aber selbst in ihren schwärzesten Momenten hätte Helen niemals vermutet, daß die beiden Personen, denen sie am meisten zu verdanken glaubte und denen sie rückhaltloser als jedem anderen vertraut hatte, sich vor zwei Jahrzehnten verschworen hatten, sie in einem Haus aus lauter Lügen aufzuziehen.
    »Warum hat Mr. Sutherland mich nicht gleich ertränkt oder erschlagen, nachdem jene India ihm das Bündel mit dem Baby ins Haus geschleppt hatte?« Sie fragte es so beherrscht, so leise, daß Dorothy Harmess zusammenfuhr. »Niemals werde ich Mr. Sutherland Vater nennen. Niemals mehr werde ich Sie Mutter nennen, Mrs. Harmess. Es wäre ehrlicher gewesen, das Baby zu erschlagen.«

5
     
     
    Nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, ohne mit den »höheren Töchtern« jemals ein tieferes Wort gewechselt zu haben, trat Helen Har mess in ihrem siebzehnten Jahr als Kopistin in die Gouvernementverwaltung von Fort George ein. Mr. Sutherland hatte diese Stelle für sie ausgesucht, und obwohl ihr die Aussicht wenig angenehm war, künftig von früh bis spät staubtrockene Akten abzuschreiben, zögerte sie nicht einen Moment, das großherzige Angebot anzunehmen.
    Man schrieb das Jahr 1873. Vor kurzem erst war mit krachenden Böllerschüssen aus den königlichen Kanonen das neue Jahr begrüßt worden, und während Britannien zweifellos von Schneeregen und Atlantikstürmen heimgesucht wurde, herrschte in der karibischen Kolonie hochsommerliche Hitze. Mr. Sutherland hatte Helen eigens in seine Bibliothek rufen lassen, um sie von der »neuen Lebenswendung« zu unterrichten, die er in ihrem wohlverstandenen Int eresse verfügt habe. Damals war James Sutherland in seinem fünfundvierzigsten Jahr, ein hochgewachsener Gentleman, dessen Haar bereits grau und spärlich wurde und dessen scharfe Mundfalten von seinem galligen Charakter zeugten. Er empfing sie in seinem Kaminsessel thronend, umgeben von ledergebundenen Gesamtausgaben in deckenhohen Vitrinenschränken. Längere Zeit musterte er sie schweigend, während Helen in unterwürfiger Haltung vor ihm stand, den Kopf gesenkt, die Haare zu einem Zopf geflochten, in mausgrauem, nach strenger Quäkerart geschnittenen Leinenkleid, das er zu ihrer ständigen Kleidung bestimmt hatte.
    »Ich wünschte mir wirklich, du würdest ein wenig mehr Dankbarkeit über die Wohltätigkeit zeigen, die du seit so vielen Jahren von meiner Hand empfängs t.« Von unten herauf sah er sie finster an, mit dem kalten, durchbohrenden Blick, den sie als Kind so sehr gefürchtet und in späteren Jahren zu hassen gelernt hatte.
    »Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, Mr. Sutherland, und stehe für immer in Ihrer Schuld. Möge Gott Ihnen Ihre Großherzigkeit vergelten, die ich selbst auf Erden niemals aufwiegen kann.« Während sie die unvermeidlichen Dankesbezeugungen herausleierte, fragte sie sich wie jedesmal bei solchen Anlässen, warum Mr. Sutherland sich derart an ihrer Unterwürfigkeit weidete. Gewiß empfand sie auch echte, tiefe Dankbarkeit für ihren Gönner, die sich aber in seiner Gegenwart stets in Zorn und Empörung verkehrte, Empfindungen, die sie sorgsam vor ihm verbarg.
    In all den Jahren, in denen sie vom stammelnden Kleinkind zur jungen Frau herangewachsen war, hatte sie stets seinen Blick auf sich gespürt: kalt, mißbilligend, besorgt. Niemals hatte er sie angelächelt, niemals ein ermutigendes oder gar lobendes Wort zu ihr gesprochen, immer schien seine verkniffene Miene auszudrücken, daß sie seinen Großmut durch Undankbarkeit, unzulängliche Leistungen, unehrerbietiges Betragen übel vergalt.
    Sie wünschte sich, endlich von seiner bemessenen Gunst unabhängig zu werden, und auch wenn sie in der Gouvernementverwaltung sogar unter einem Dach mit ihm arbeiten würde, war es doch ein erster Schritt hin zur erträumten Selbständigkeit.
    »Deine Arbeit beginnt am Montag, um sieben Uhr früh«, sagte Mr. Sutherland. »Melde dich im Schreibsaal bei Mr. Boresome, er wird dich in deine Pflichten einführen.«
    Sie vollführte einen Knicks, murmelte weitere Dankesbezeugungen und wurde endlich huldvoll entlassen.
    Als Hilfsbeamtin der königlichen Gouvernementverwaltung erfuhr Helen zum ersten Mal in ihrem Leben, daß es von Vorteil sein konnte, »nic ht Milch und nicht Kakao« zu sein. Da sie sowohl Englisch als auch Quiché beherrschte, geschah es immer häufiger, daß man ihre Dienste als Dolmetscherin beanspruchte. Wenigstens zweimal in der Woche wurden Indios aus

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