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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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weltfremder Narr. Doch wenn eine Frau wie sie, gewohnt, dem trügerischen Schein zu mißtrauen, einen zweiten oder gar dritten Blick wagte, dann konnte es durchaus geschehen, daß sie diesen so unauffälligen jungen Briten auf einmal höchst interessant fand: sein Äußeres anziehend, seinen Blick tiefsinnig, seine Malerhände von bemerkenswerter Feingliedrigkeit.
    Nicht anders war es ihr selbst in Fort George ergangen, in den langen Wochen, in denen sie Mr. Thompson Tag für Tag von ihrem Kopistenpult in Government House aus zusah, wie er vor ihrem Fenster im Park umherspazierte, auf der Suche nach einem passenden Platz für seine Staffelei. Sie hatte ihn mit ihren Blicken verfolgt, seine hagere, hochgewachsene Gestalt, seine unbeholfenen Bewegungen, sein selbstvergessenes Mienenspiel, und immer häufiger war es geschehen, daß sie sich bei törichten Träumereien ertappte: wie sie es anstellen würde, daß sie einander zufällig über den Weg liefen; wie sie ins Gespräch kämen, er sie anlächeln und seine Hoffnung ausdrücken würde, sie bald schon wiederzusehen; wie er ihr schließlich erzählen würde, was sie Sergeant Muller, dem Wachsold aten am Parktor, längst abgelauscht hatte: daß Mr. Thompson nur deshalb von London über alle Meere nach Fort George gereist war, weil er den verwegenen Plan hegte, versunkene Ruinenstädte in der Tiefe des Dschungels zu erforschen und aufs Papier zu bannen mit seiner Zeichenkunst.
    In ihren Tagträumen pflegte Robert Thompson nach diesem Geständnis ihre Hand in seine Hände zu nehmen, ihr tief in die Augen zu schauen und sie zu fragen: »Miss Harmess, wollen Sie mein Schutzengel sein und mich auf meiner Expedition begleiten?« Himmel noch mal, wie sehr sie sich gewünscht hatte, daß er ihr diese Frage stellte! Wie leuchtend sie sich ihre Begegnung, ihr Gespräch, den alles entscheidenden Moment ausgemalt hatte!
    Die Wirklichkeit war indessen, wie immer, sehr viel weniger romantisch gewesen. Eines Tages faßte sie sich endlich ein Herz und eilte um die Mittagsstunde nach draußen, beunruhigt, weil sie ihn heute noch nicht gesehen hatte, und mehr noch, da sie damit rechnen mußte, ihm im nächsten Augenblick gegenüberzustehen. Von derlei widerstreitenden Gefühlen erfüllt, lief sie durch den regennassen Park, den Kiesweg entlang, der von Government House zu den Kanonen an der Seeseite führte.
    Auf einmal sprang Mr. Thompson zwischen zwei dampfenden Büschen hervor, keine zwei Fuß von ihr, so unerwartet, daß sie zusammenfuhr. Auf einer winzigen Lichtung hinter dem Buschwerk erspähte sie seine Staffelei, aber was es dort im tropfnassen Unterholz zu zeichnen gab, schien ihr unerfindlich.
    »Oh, Mr. Thompson, verzeihen Sie«, stotterte sie und spürte, wie sie bis unter ihren dichten schwarzen Haarschopf errötete.
    »Sie kennen meinen Namen?« Aus seiner überlegenen Höhe von fünfeinhalb Fuß sah er geistesabwesend auf sie herab. Sein längliches Gesicht war kalkweiß wie stets, die Lider über den wasserblauen Augen flatterten. Ehe sie eine Antwort stammeln konnte, erklärte er abschließend: »Ich habe um Verzeihung zu bitten, Miss. Ich war in Gedanken...«
    »Miss Harmess - Helen Harmess«, antwortete sie und kam sich auf einmal furchtbar töricht vor. Denn Robert Thompson hatte sich bereits wieder abgewandt und war zu seiner Staffelei zurückgekehrt, als wären seine Pläne, die ihn eben in die Welt diesseits der Büsche getrieben hatten, durch ihren Zusammenstoß nichtig geworden.
    Es war ihre einzige Bege gnung in sechs langen Wochen, in denen Robert Thompson beinahe jeden Nachmittag im Park verbrachte, und es sollte ihr einziges Gespräch bleiben, wenn man seine floskelhafte Zerstreutheit und ihr verworrenes Stammeln überhaupt als Gespräch bezeichnen wollte. Und doch bestärkte dieses Zusammentreffen Helen in ihrem tollkühnen Plan, sich Mr. Thompson bei seiner Expedition in die Tiefen des Urwalds anzuschließen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte Dorothy Harmess ihr bereits unter erstickten Schluchzern gestanden, daß ihre gesamte bisherige Welt auf einem Machwerk aus sorgfältig ausgetüftelten Lügen fußte.
    Mama Doro war nicht ihre Mutter. Und Papa Mick war ein Phantom, sie hatte es immer geahnt. Sie war das Kind einer Mayafrau aus der Tiefe des Dschungels, aus einem Hüttendorf nahe der Grenze zu Guatemala. Und Mr. James Sutherland war kein großherziger Gönner, in dessen Haus sie gnadenhalber aufwachsen durfte, sondern ihr leiblicher Vater. Das

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