Im Tempel des Regengottes
Leutnant, in schmucker, wenngleich schlammbespritzter Tropenuniform, zog seine Kappe vom Kopf und wischte sich über die Stirn. »Wie weit ist Thompson voraus, Sir? Nach meiner Karte sind es keine zehn Meilen mehr bis zur Schlucht, in der eine Indiosiedlung liegen müßte. Haben wir eine Chance, ihn vorher abzufangen?«
Während ihres Wortwechsels war die Sonne hinter den Bäumen höher und höher gestiegen, nun schwebte sie über den Wipfeln und tauchte die kleine Lichtung in goldene Wärme. Ringsum im Wald stimmten zehntausend Vögel ihr Morgenkonzert an, alle zur gleichen Zeit, ein ohrenbetäubendes Spektakel, das jeden Morgen fast zur gleichen Minute einsetzte und doch immer wieder überraschend begann, als flöge ein Tor in eine andere Welt auf.
Der Leutnant schrie etwas, doch was er sagte, war nicht zu verstehen. Helen sah, wie sich seine schmalen Lippen unter dem gleichfalls strichdünnen Schnurrbart bewegten, aber von dem Gekreische der Vögel wurde jeder menschliche Laut übertönt. Die Soldaten schauten sich nach allen Seiten um, in offenkundiger Panik, ihre Waffen abwechselnd auf Weg und Buschwerk richtend, obwohl das Verhängnis von oben kam: Während Hunderttausende Urwaldvögel immer lauter und sinnverwirrender kreischten, stob ein Schauer lautloser Pfeile von den Wipfeln auf die Soldaten hinab.
Schneller als jeder andere erkannte Mr. Mortimer die tödliche Gefahr. Er warf sich zu Boden, die Nonne mit sich ziehend, und rollte sie beide mit der gleichen Bewegung weiter, eine Walze bleichen Fleisches, die krachend ins Unterholz brach. Außer einigen Schrammen und einem gellenden Schrei der Barmherzigen Schwester brachte ihm die Heldentat allerdings wenig ein: Nur einen Moment später flogen vier, fünf, sieben braune Schatten aus den Wipfeln auf sie hernieder und wurden im Sprung zu kompakten Körpern, die mit Fäusten und Steinbrocken Mortimers Widerstand brachen.
Am ganzen Leib zitternd, versuchte Helen zu erlauschen, was droben auf der Lichtung geschah. Sie war nur einen Wimpernschlag später als Mr. Mortimer zu Boden gegangen und, mehr durch Glück als durch Vorbedacht, einen Hang hinabgerutscht, der hinter dem Buschwerk überrasche nd abwärts führte. Am ganzen Leib zitternd, versuchte sie zu erlauschen, was droben auf der Lichtung geschah. Die zu ihr herabdröhnenden Flüche, lauter selbst als das Geschrei der Vögel, ließen keinen Zweifel daran, daß Mortimer überwältigt worden war. Auc h Miriam war den Indios sicher nicht entkommen, dachte Helen, indem sie nach ihrem Bündel tastete, das sie im Flug und Sturz geistesgegenwärtig noch gepackt hatte.
Und die Soldaten? Das Herz pochte ihr bis in die Kehle hinauf. Weiter, fliehen, spornte sie sich an, aber sie war außerstande, auch nur einen Muskel zu rühren. Sie schloß die Augen. Der schmale Leutnant mußte sofort tot gewesen sein. Einen gefiederten Pfeil im Herzen, einen zweiten im linken Auge, war er wie ein abgeknickter Holzpfahl umgestürzt und reglos auf dem Rücken liegengeblieben. Wie es den sechs Soldaten ergangen war, sie wußte es nicht. In Schlamm und Laubhaufen kauernd, die sich am Fuß des kleinen Hangs angesammelt hatten, mußte sie eine Hand auf ihren Mund pressen, um nicht laut aufzuschreien. Vergeblich versuchte sie sich zu entsinnen, ob überhaupt Schüsse abgefeuert worden waren, ob die Kavalleristen noch Gelegenheit hatten, ihre Waffen zu benutzen, oder ob sie alle vom ersten Hagel der Pfeile überwältigt worden waren.
Erst als das Geschrei der Vögel endlich abgeebbt war, Minuten oder Stunden später, kam Helen weit genug zu Sinnen, um zu erkennen, daß sich oben auf der Lichtung nichts Menschliches mehr regte. Und daß wenige Schritte hinter ihr zwei britische Soldaten hockten, fast unkenntlich eingegraben in Laub und Schlamm.
Aber nur fast. Wie versteinert starrte sie über die Schulter zu den beiden Männern zurück.
Der jüngere war Charles Muller, Helen Harmess' alter Bekannter von Government House. Auch den zweiten Soldaten, einen stämmigen Burschen mit vierschrötigen Zügen, erkannte sie nun in jähem Entsetzen: Es war Richard Chillhood, den sie schon mehrfach im White House von Fort George gesehen hatte, ein altgedienter Sergeant, dem der Ruf vorauseilte, diesseits der Karibik der gerissenste Menschenjäger Ihrer Majestät zu sein.
Und die beiden, Sergeant Chillhood und sein Kamerad Muller, krochen nun unter ihren Laubhaufen hervor und kamen in gebückter Haltung, ihre Waffen vor sich im Anschlag, auf
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