Im Tempel des Regengottes
den unseligen Pferdeburschen Henry O'Rooney zu.
SECHS
1
Schon von weitem leuchtete ihnen das Zeichen entgegen, groß wie eine Männerfaust, die Kerben fingerbreit und blutrot gefärbt. Es war in den Stamm eines Ramónbaums geschlagen worden, mit der Axt und in Augenhöhe eines Reiters, so daß es ihnen regelrecht entgegensprang: eine stilisierte Krone mitten im Wirrwarr des Waldes, nach links weisend, als hätte ein gekröntes Haupt sich sinnend zur Seite geneigt.
Stephen Mortimer zügelte sein Pferd neben dem Zeichen und wandte sich um. Seit vorgestern früh, als sie Chul Ja' Mukal verlassen hatten, führte er ihren kleinen Zug an, auf seinem gewaltigen Rappen reitend, vor sich Miriam im Damensitz. Stunde um Stunde waren sie auch heute dem Pfad gefolgt, der sich im Zickzack durch den Dschungel wand, von himmelhohem Dickicht umgeben. Es war ein elender Weg, mit Löchern übersät, mit armdicken Wurzeln durchflochten und so schmal, daß ihnen die Äste ins Gesicht schlugen. Und doch war Robert für jede Stunde dankbar gewesen, in der sich der Pfad nicht gegabelt, nic ht verzweigt hatte, sondern weiterhin wie ein Tunnel durch undurchdringliches Dickicht führte.
Es war um die Mittagsstunde, die Luft von Insekten und kochender Schwüle erfüllt. Roberts Tunika, das Geschenk des blinden Schamanen, war auf der Brust und unter den Armen vor Schweiß gedunkelt, und er lechzte nach einer Rast. Vor ihm ritt Paul Climpsey wie ein Schlafwandler dahin, halb vornübergesunken, und Robert bog sich auf seinem Wallach zur Seite, um zu sehen, wie Stephen, zwanzig Schritte vor ihnen, Karte und Kompaß aus seinem Brustbeutel zog. Stephen sagte etwas Unverständliches zu Miriam, die leise auflachte. Er entfaltete das zerfledderte Blatt auf ihren Beinen, dann schüttelte er den Kompaß und richtete ihn aus. Von Unruhe ergriffen, wäre Robert am liebsten an Paul vorbei und im Trab auf die blutrote Krone zugeritten, die über Miriams Kopf zu schweben schien. Aber der Pfad war viel zu schmal, und so mußte er weiter hinter Paul hertrotten und mitansehen, wie Stephen auf die Karte deutete und mit der anderen Hand nach links wies, auf die hohe Wand aus Bäumen, Lianen, wucherndem Gestrüpp.
Es war der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte, seit sie aus Chul Ja' Mukal aufgebrochen waren. Der Uralte hatte ihnen erklärt, daß der Pfad geradewegs »in die heilige Stadt Kantunmak« führe und daß sie ihn keinesfalls verlassen dürften, »bei furchtbarer Strafe nach dem Gesetz Cha'acs«. Schon da hatte Robert geahnt, daß dieses Verbot sie über kurz oder lang in neue Schwierigkeiten bringen würde. Denn das Gesetz des »Affengottes« würde Stephen zweifellos nur so lange befolgen, wie es den Weisungen seines Kompasses entsprach.
Endlich hatten sie zu Stephen aufgeschlossen. Pauls Pferd blieb hinter dem Rappen stehen, doch Paul verharrte, wie er seit Stunden dahingeritten war, vornüber gebeugt, mit hängendem Kopf. Sein Zustand war besorgniserregend, der eine Alte in Chul Ja' Mukal, dachte Robert, mußte ihn mit einem Zauber belegt oder ihm eine ernste Verletzung zugefügt haben. Aber noch weit beunruhigender war der Plan, den Stephen offenbar hegte.
Abermals deutete Stephen zu dem Dickicht linker Hand, wo selbst aus der Nähe nur ein dürftiger Spalt im wuchernden Wirrwarr zu erkennen war. »Hier geht's weiter«, sagte er, zu Paul und Robert gewandt. »Wußte ich doch, daß wir über kurz oder lang auf Oldboy und seine Leute stoßen würden.«
Robert nickte ihm vage zu, in diesem Moment war er froh, daß Paul ihn zur Hälfte vor Stephens Blick verdeckte. Er hatte es nicht über sich gebracht, den Gefährten von der gräßlichen Entdeckung zu berichten, die er im unterirdischen Heiligtum Cha'acs gemacht hatte. Wieder und wieder hatte er in den zurückliegenden Tagen darüber nachgedacht, und inzwischen war er sich auch nicht mehr ganz sicher, ob das eine Gesicht im Altar des Regengötzen, die schaurig verquollene graurosa Fratze, tatsächlich die Züge Youngboys getragen hatte. Möglich, dachte er, daß seine Phantasie ihn genarrt hatte, doch zugleich spürte er, daß es eher ein Wunsch als eine Möglichkeit war.
»Aber du hast doch gehört, Stephen«, wandte er nun ein, »was der Alte im Dorf gesagt hat: Wenn wir diesen Weg verlassen...«
Stephen unterbrach ihn mit einer sägenden Handbewegung.
»Sollen die Affen hier draußen dich meinethalben für einen Boten ihrer Götzen halten. Deshalb werden wir aber noch lange
Weitere Kostenlose Bücher