Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
Sie haben nichts mehr übrig, um die Bankschulden zu bezahlen. Und kaum zeichnete sich das ab, hat Michelle sich abgemeldet.
Sein Ferienhaus auf Zypern hat er auch nicht mehr. Total bankrott. «
»Scheiße.«
»So kann man es wohl bezeichnen. Und Dom geht es auch nicht besser, eine oder zwei Million mehr oder weniger.«
»Wirklich?«
»Pst.« Hutch warf wieder einen Blick auf das Zelt der anderen. »Sie haben sich getrennt.«
»Im Ernst?«
Hutch nickte und griff nach dem Topf. »Gib mir mal dein Ding da.«
Luke hielt ihm den leeren Becher hin.
Hutch konzentrierte sich darauf, ihm Kaffee einzuschenken, ohne zu kleckern. »Das war schon vor meiner Hochzeit. Sie waren überhaupt nicht mehr richtig zusammen an diesem Tag. Gayle ist schon seit Jahren schwer depressiv. Hat Persönlichkeitsstörungen. Postnatale Depression nach der Geburt von Molly, ihrer Jüngsten. Wer weiß das schon so genau? Irgendwann im letzten Jahr ist sie dann zusammengebrochen. Du weißt ja, wie schwierig die Jüngste ist, zuerst tippte man auf Asthma, dann auf ADD, jetzt denken sie, sie ist autistisch. Das volle Programm. Dazu noch die Schwierigkeiten mit Doms Arbeit. Marketingleiter in der Finanzbranche. Die werden als Erstes rausgeschmissen. Bei dem ist alles schiefgelaufen.«
»Und was will er jetzt machen?«
»Sich um die Kinder kümmern, sich besaufen, Weiber anmachen, aber das alles bringt nichts. Gayle ist bei ihrer Mutter. Und steht schwer unter Medikamenten.«
Luke hob die Hände vors Gesicht und stöhnte: »Scheiße.«
»Und er ist den ganzen weiten Weg nach Schweden gekommen, um noch einen reingewürgt zu bekommen, hat sich verlaufen und muss sich mit dir rumschlagen. So, jetzt weißt du, wie schlimm es um die beiden steht, die sind völlig fertig und
wahrscheinlich wirklich nicht in der Lage den Gedanken zu ertragen, wie toll das Leben ohne jede Verpflichtung wohl sein könnte.«
»Aber warum zum Teufel hast du mir das nicht früher gesagt, Hutch?«
»Sie wollten nicht, dass das ihren Urlaub überschattet. Sie wollten es einfach mal für eine Weile vergessen. Wenn sie es dir erzählt hätten, wären zu viele Erklärungen nötig gewesen und sie hätten sich die ganze Zeit rechtfertigen müssen.«
Luke spürte, wie ihm vom Scheitel bis zur Sohle eiskalt wurde. Er erschauerte. Fühlte, wie Selbsthass in ihm aufstieg. »O Gott, was bin ich nur für ein Arschloch.«
»Du konntest es ja nicht wissen.« »Aber genau in solchen schweren Zeiten muss man doch Freunde haben.«
»Hör mal, so nah habt ihr euch auch nicht gestanden. Ihr habt euch jahrelang nicht gesehen.«
»Ich wusste doch, dass irgendwas nicht stimmt. Ich wusste es. Ich hätte doch darüber nachdenken können. Mann, ich bin so selbstsüchtig. So egozentrisch. Ich kann nicht über meinen eigenen beschissenen Tellerrand hinaussehen …«
Er wurde von einem lauten Krachen unterbrochen. Irgendwo dort draußen, inmitten der endlosen ungeordneten Reihen der Bäume und dem Meer von verrottendem Holz und undurchdringlichem Gestrüpp, war ein großer Ast oder ein ganzer Stamm offenbar auseinandergebrochen. Der brutale Klang dieses mächtigen Zerberstens schien sich in alle Richtungen zu verbreiten. Es war praktisch unmöglich herauszufinden, wo dieses Geräusch seinen Anfang genommen hatte.
»Mein Gott, hab ich mich erschreckt.«
Hutch atmete heftig aus. »Ich mich auch.«
»Das hab ich schon mal gehört. Vor dieser Hütte.«
»Das war nur ein Ast, der runtergefallen ist.«
»Meinst du?«
»Morsche Äste saugen sich mit Wasser voll und brechen ab.«
Aber die nachfolgende Serie von Geräuschen wurde nicht von einem Baum verursacht und ähnelte auch nichts, das sie bisher in diesem oder irgendeinem anderen Wald gehört hatten. Es war eine Mischung aus ochsenartigem Keuchen und dem Bellen eines Schakals, aber so tief und kraftvoll, dass man sich ein viel größeres Tier mit einem viel mächtigeren Brustkorb und riesigem Maul vorstellen musste. Eine Bestie, etwas Wildes, dem man besser aus dem Weg ging. Das Geräusch wiederholte sich. Ungefähr zwanzig Meter von ihnen entfernt. Aber man konnte nichts hören, was darauf hindeutete, dass sich da etwas bewegte.
Es war garantiert ein Tier, etwas Großes. Luke wusste, dass die Dunkelheit ganz natürliche Geräusche verfremden und verstärken konnte. Sogar eine kleine Kröte konnte mitunter gigantisch wirken und kilometerweit gehört werden. Ein Vogelruf konnte mit einem menschlichen Schrei verwechselt werden, und im
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