Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
Menschen, der von seiner eigenen Panik und der Angst vor der totalen Vernichtung völlig aufgerieben wird, beherrschte die gesamte Umgebung, und es war kaum mehr möglich, so dicht daneben einen klaren Gedanken zu fassen.
In der eisigen Dunkelheit bemerkte Luke gleichermaßen erschrocken wie auch erleichtert, dass die entsetzlichen Geräusche aus dem Nachbarzelt kamen. Und zwar von Dom.
Der lockere Stoff des Daches seines eigenen Zeltes erzitterte wegen des Lärms im Nachbarzelt. In seinen Ohren klang es, als würde dort jemand gewaltsam von seinem Lager gezerrt. Hinzu kam ein Geräusch wie von Stoff, der in lange Fetzen gerissen wurde, und von Büschen, auf die jemand einprügelte.
Luke richtete sich ruckartig auf und suchte nach dem Reißverschluss
seines Schlafsacks. Dann tastete er nach seiner Taschenlampe, konnte sie aber nicht finden. Schließlich gab er die Suche auf und bemühte sich, seine feuchte Hose ausfindig zu machen, weil er das Schweizer Armeemesser aus der Tasche nehmen wollte, und da setzte Phil sich neben ihm auf.
»Was ist das? Was ist das? Was ist das?«, wiederholte er benommen, aber seine Stimme klang, als hätte er längst akzeptiert, dass etwas Schlimmes passieren würde, und er wusste, dass es nun geschah. Offenbar wollte er nur noch wissen, um was genau es sich handelte.
Sie hielten inne und sagten kein Wort mehr. Auch Doms Heulen hörte schlagartig auf. Alles war vollkommen still. Dann jedoch durchbrach Hutchs jähes schmerzerfülltes Brüllen das Schweigen. Es war, als würde jemand aufschreien in einem Todeskampf, der so brutal war, dass den Zuschauern dabei übel wurde. Daraufhin folgte etwas, das wie ein kindliches Wimmern klang und bald wieder verstummte.
Das Geräusch eines schweren Körpers, der sich dicht über dem Boden vom Zeltplatz fortbewegte, war zu hören, etwas hastete in den Wald hinein und sprengte dabei sämtliches Gehölz beiseite, das im Weg stand, oder trampelte es platt, bis es mit rasender Geschwindigkeit verschwunden war und Stille einkehrte, die nur durch den sanften Regen gestört wurde, der auf die Blätter der umstehenden Bäume und die schlaffe Zelthaut rieselte. In dieses Schweigen mischten sich eigenartige Vogelstimmen und Schreie von Tieren, als hätten die Kreaturen dort draußen in der Nacht mitbekommen, was für ein grausiges Ereignis das Lager heimgesucht hatte, und würden nun aufgeschreckt nach den Überlebenden rufen, die nach dem Angriff in den Trümmern übrig geblieben waren.
Phils Taschenlampe klickte an. Der bunt durcheinandergefallene Inhalt seines Rucksacks breitete sich vor ihm aus. Zwei nasse Regenjacken lagen unordentlich neben dem windschiefen
Eingang. Es gab nicht einen Quadratzentimeter im Zelt, der nicht mit Phils Krempel bedeckt war. Inmitten dieses Durcheinanders entdeckte Luke seine eigene Taschenlampe und griff nach ihr.
Neben sich, durch den dünnen Zeltstoff hindurch, der an Lukes Körper festklebte, als er auf allen vieren zum Ausgang kroch, hörten sie Doms rhythmischen keuchenden Atem im Nebenzelt. Er klang wie jemand, der kurz vor dem Ersticken war oder an einem Herzanfall litt.
Luke schleuderte den Schlafsack von sich. Unter sich spürte er seine kalte Regenhose, die noch immer nass war vom Regen des vergangenen Tages. Sein halbnackter Körper erschauerte. Am Zelteingang suchte er geduckt nach seinen Stiefeln. Sie waren innen immer noch nass. Er schob sie beiseite. Hinter sich hörte er, wie Phil nach seinen Kleidern tastete.
Mit ausgeklapptem Messer kletterte Luke hinaus. Kurz verlor er das Gleichgewicht, stützte sich ab und richtete sich dann auf. Die kalte Nachtluft schlug ihm ins Gesicht. Um sich herum in der schwarzen Nacht spürte er Tausende von Dingen, die tropften oder sich leise bewegten. Durch schmale Öffnungen im Blätterdach des Waldes war der Himmel als dunkle Leere zu erkennen, die den Lichtstrahl seiner Taschenlampe aufzusaugen schien. Er war unfähig, den Schutz des Vordachs zu verlassen.
Als er den weißlichen Lichtkegel seiner Lampe nach unten richtete, kam das zweite Zelt in sein Sichtfeld.
Einiges was er dort sah, war schrecklich verkehrt.
Luke hielt den Atem an und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken: Das Zelt war völlig in sich zusammengefallen, nur noch ein einziges Durcheinander von Nylonstoff und Seilen. Ein Großteil der einen Seite war einfach weggerissen worden, so dass die netzartige weiße innere Textilschicht zu sehen war, die im Kontrast mit der feuchten schwarzen Erde
Weitere Kostenlose Bücher