Im Totengarten (German Edition)
bevorstehenden Abends in Gesellschaft dieses Mannes zuzuschreiben war.
So oder so gab ich mir alle Mühe, nicht so auszusehen, als hätte ich mir seinetwegen extra Mühe mit meinem Erscheinungsbild gegeben, und kehrte in einer dunklen Seidenbluse, einer alten Jeans und Stiefeln mit flachen Absätzen ins Wohnzimmer zurück.
Ich sah ihn nicht sofort, denn er war hinter meinem Sofa abgetaucht und musterte den Inhalt der Regale.
»Was machst du da?«
»Ich mache mir ernste Sorgen um deinen Musikgeschmack.« Er hielt eine CD so vorsichtig zwischen zwei Fingern fest, als explodiere sie im nächsten Augenblick. »Wobei dieser CD hier meine größte Sorge gilt. Boy George«, stellte er angewidert fest.
»Um Himmels willen. Die habe ich zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt gekriegt.«
Er stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Miles Davis rehabilitiert dich, wenn auch gerade so.«
Schließlich riss er sich von den Regalen los, und wir wandten uns zum Gehen.
Auf dem Weg nach draußen sah ich eine Nachricht meiner Freundin auf dem Küchentisch. »21 Uhr Party bei Lars. Erwarte dich in deinem Silberkleid!«
Unter diesen Worten hatte Lola eine Reihe Küsse aufs Papier gemalt. Angesichts der ausholenden Schrift, die für sie typisch war, hätte jeder Graphologe sie bestimmt als geradezu gefährlich instabil klassifiziert.
»Musst du unbedingt auf diese Party gehen?«, erkundigte sich Alvarez, der über meine Schulter sah.
»Oh nein, ganz sicher nicht. Ich habe wahrscheinlich in meinem ganzen Leben nie weniger Lust zum Tanzen gehabt.«
Er sagte nicht, wohin wir gingen, doch zur Abwechslung empfand ich es als durchaus angenehm, einfach jemandem zu folgen und zu keiner Entscheidung gezwungen zu sein. Schließlich legte er die Hand in meinen Rücken, und wir liefen an der New Concordia Wharf vorbei hinunter an den Fluss. Hinter allen Fenstern brannte Licht, und mir kam es so vor, als hätte sich ganz London heute Abend vorgenommen, vor dem Fernseher zu hocken, statt noch einmal hinaus in die Kälte zu gehen. Immer noch hüllte der Nebel, der über der Themse hing, die Boote wie in Seidenpapier ein und dämpfte jeden Laut.
Neben dem Design Museum wies ein Leuchtschild auf das Blueprint Café hin. Wir erklommen eine schmale Treppe, traten durch die Tür des schummrigen Lokals, in dem eine ganze Reihe Ober vollbeladene Tabletts auf ihren Fingerspitzen balancierten, und nahmen auf einem Sofa neben einem riesengroßen Panoramafenster Platz. An einem klaren Abend hätte man wahrscheinlich sogar die Fabrikschlote und Kirchtürme von Whitechapel sehen können, aber als wir zwei dort saßen, drängte eine dichte Wolkenwand gegen das Glas.
»Nichts zu sehen«, bemerkte ich.
»Das würde ich nicht sagen«, antwortete Alvarez und sah mich, während einer der geschickten Kellner die von ihm bestellten Gläser Bier auf unserem Tisch abstellte, bedächtig an.
Ich erwiderte seinen durchdringenden Blick. »Was würde Burns wohl sagen, wenn er wüsste, dass du hier mit mir zusammensitzt?«
»Wahrscheinlich, dass ich ein Glückspilz bin«, gab er achselzuckend zurück. »Er würde mich auf jeden Fall nicht feuern, falls du das meinst. Dafür braucht er mich zu sehr.«
Während der Nebel hinter dem Fenster wogte, dachte ich kurz über meine Möglichkeiten nach. Wir könnten den ganzen Abend weiterflirten. Oder ich könnte ihm eine direkte Frage stellen, auch wenn unser Zusammensein dann sicher einen völlig anderen Fortgang nahm.
Ich atmete tief durch und feuerte dann einfach meine Frage auf ihn ab.
»Also, Ben, wie lange ist es her, dass du deine Frau verloren hast?«
Nach einem kurzen Augenblick der Anspannung nahm er gleich wieder die gewohnt entspannte Haltung ein, wie ein Profiboxer, der nach einem Treffer sofort auf den Gegentreffer sann. »Ich habe sie nicht verloren«, erklärte er mir ruhig. »Sie war zu Hause, als sie starb. Das Wort verlieren klingt, als wäre sie mir irgendwo aus der Jackentasche gefallen, und ich hätte es gar nicht gemerkt.«
Ich antwortete nicht. Hari hatte mal zu mir gesagt, das größte Talent eines Psychologen wäre Passivität. Kein einziges Wort zu sagen, wenn der andere in vollem Schwung war, und ihm nur durch Körpersprache zu verstehen zu geben, dass man jedes seiner Worte mitbekam.
»Irgendwann wurde sie depressiv. Das war das erste Symptom des Hirntumors. So haben wir auch Tejo kennengelernt. Der Neurologe meinte, der Tumor wäre inoperabel, aber Tejo hat Louisa monatelang betreut
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