Im Totengarten (German Edition)
Handy, aber offenbar steckte es in der Tasche meines Mantels, und der hing draußen im Flur.
Dann hörte ich wieder das Geräusch. Das leise Tapsen eines Menschen, der durch alle Zimmer schlich.
Ich kletterte möglichst lautlos aus dem Bett, stieg in meine Jeans und rückte unter Aufbietung all meiner Kraft meine Kommode vor die Tür. Dann rannte ich auf den Balkon. Mein Mund war derart trocken, dass praktisch kein Laut zu hören war, als ich um Hilfe schrie. Deshalb kam auch niemand angerannt, und nirgends machte irgendjemand Licht. Mein Atem bildete dicke Wolken vor meinem Gesicht, und meine nackten Füße froren auf dem Beton.
Jemand rüttelte an meinem Türgriff, und meine Kommode schob sich langsam durch den Raum. Mir blieb noch eine Minute, vielleicht nicht einmal mehr die.
Meine Stimme hatte einen dicken Kloß in meinem Hals geformt. Ich gestattete mir nicht, in Richtung Bürgersteig zu sehen, denn dann wäre ich vor Angst bestimmt gelähmt gewesen und hätte auch weiter zitternd direkt neben meinem Zimmer ausgeharrt.
Der Gedanke an das Crossbones-Mädchen mit den Hunderten von Narben brachte mich dazu, dass ich über das Metallgeländer stieg. Dann holte ich tief Luft und schwang mich durch den leeren Raum.
22
Während einiger Sekunden kam es mir so vor, als würde ich tatsächlich fliegen. Ich segelte zwei bis drei Meter durch die kalte Winterluft mit nichts anderem unter mir als dem zehn Meter entfernten harten Bürgersteig. Schließlich aber packten meine Hände das Geländer des Balkons der Nachbarwohnung, und ich hing mit wild baumelnden Beinen in der Luft. Meine Finger hatten keinen echten Halt an dem eisigen Metall. Unten auf der Straße rannte irgendjemand weg, doch ich konnte nicht nach unten sehen, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, zu verhindern, dass ich runterfiel. Dann packte urplötzlich irgendwer mein Handgelenk, und ich hörte eine Männerstimme fluchen, während mich mein Retter über das Geländer zog und ich einfach keuchend und viel zu erschöpft, um ihm zu danken, auf dem Boden liegen blieb.
»Sind Sie verrückt?« Mein Lebensretter musste Anfang zwanzig sein. Er trug nur Boxershorts und funkelte mich wütend an.
»Rufen Sie die Polizei«, wisperte ich, und dann wurde ich plötzlich aus dem Nichts in weißen Nebel eingehüllt und stellte vorübergehend die Atmung ein.
Der junge Mann war angezogen, bis ich wieder zu mir kam, und seine Freundin beugte sich besorgt über mich. Nach dem ersten Schock, als sie mich schreiend an ihrem Geländer baumeln sahen, hatten sie die Situation hervorragend im Griff und spendeten mir bis zur Ankunft der Beamten Kekse, Tee und jede Menge Mitgefühl. Das Mädchen sah mit seiner makellosen Haut und seinen Korkenzieherlöckchen fast wie eine Puppe aus.
»Sie meinen, dass jemand bei Ihnen eingebrochen ist?« Sie riss verblüfft die Augen auf, und ich nickte mit dem Kopf.
»Aber leider habe ich ihn nicht gesehen, weshalb ich ihn auch nicht beschreiben kann.«
»Muss ein Bekannter von Ihnen gewesen sein«, stellte sie mit überzeugter Stimme fest.
»Und warum?«
Sie bedachte mich mit einem nachsichtigen Blick, als wäre ich schwer von Begriff. »Er hatte einen Schlüssel, oder nicht?«
Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich begriff. Sie hatte selbstverständlich recht. Wer auch immer bei mir eingedrungen war, hatte einen Schlüssel für die Wohnungstür gehabt. Aber niemand hatte einen solchen Schlüssel außer meinem Bruder, meiner Freundin Lola und mir. Sean hatte mir einmal vorgeschlagen, dass wir unsere Wohnungsschlüssel tauschen sollten, doch praktischerweise hatte ich ganz einfach nie daran gedacht, einen nachmachen zu lassen, deswegen war es nie dazu gekommen.
Während ich in dem Bemühen, meinen Blutzuckerspiegel wieder zu erhöhen, das nächste Schokoladenplätzchen aß, tauchten zwei Streifenpolizisten auf. Sie sahen wie Statisten einer Krimiserie aus, nicht mehr jung und so erschöpft, als gäben sie den Job spätestens an ihrem fünfzigsten Geburtstag auf. Sie nahmen auf dem schwarzen Ledersofa meiner Nachbarn Platz und musterten mich skeptisch. Vielleicht dachten sie, ich wäre nur in meine Wohnung eingebrochen, um Leuten wie ihnen Scherereien zu machen oder so, und nach ein paar Minuten bat der Ältere der beiden um Entschuldigung, trat in den Flur hinaus, murmelte etwas in sein Walkie-Talkie und kam, während das Funkgerät an seinem Rockaufschlag wie ein schlechterzogener Papagei unaufgefordert vor sich hin zu
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