Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Sturmgewehr lag am Boden, neben dem Abdeckgitter eines Lüftungsschachts. Der Anblick dieses Gitters sollte Tolik noch lange in Erinnerung bleiben. Obwohl aus fingerdicken Stahlstäben geschweißt, war es von einer unbekannten Kraft völlig ramponiert, gequetscht und verbogen worden, als wäre es aus Blech.
Der Lüftungskanal, zu dem das Gitter gehörte, war höchstens so breit wie ein menschlicher Kopf. Trotzdem war Mitjai darin verschwunden! Es gab keinen anderen Ausgang aus dem Raum. Rund um das gähnende Loch war die Wand mit Blutflecken übersät, an denen rote Haarbüschel klebten. Tolik sammelte sie sorgfältig ein und brachte sie Mitjais Mutter, damit sie ihren Sohn wenigstens symbolisch bestatten konnte. Mehr war nicht von ihm übrig geblieben.
Seit jener Zeit beschäftigte Tolik der Umstand, dass er die Gefahr damals schon im Vorfeld gespürt hatte. Bereits eine Minute, bevor überhaupt etwas geschah, hatte er gewusst, dass jemand sterben würde.
Tolik kehrte in die Gegenwart zurück. Er rieb sich die Stirn, um die Bilder aus der Vergangenheit zu verscheuchen, betrachtete die inzwischen leeren Teller seiner Leute und stand auf.
»Bleibt in der Nähe«, befahl er heiser. »In einer Stunde treffen wir uns alle am Bahnsteig.«
Nachdem er in sein Zelt zurückgekehrt war, öffnete er zerstreut seinen Geigenkoffer. Er nahm das Heftchen mit dem anarchistischen Evangelium und den Gedichtband heraus und verstaute sie in seinen Jackentaschen. Wer weiß, ob er jemals zur Guljaipole zurückkehren würde?
Während er das leere Zelt verschnürte, musste Tolik plötzlich schmunzeln. Ihm war eingefallen, was er in einem Buch über die Begräbnisse ägyptischer Pharaonen gelesen hatte. Wenn jene die Reise ins Jenseits antraten, nahmen sie alles mit, was ihnen auf diesem beschwerlichen Weg nützlich sein konnte. Die Metro in ihrer jetzigen Ausprägung war auch eine Art Jenseits. Er handelte also in bester Tradition einer untergegangenen antiken Zivilisation. Eine fürwahr symbolische Geste …
3
KNALLQUECKSILBER
Toliks Kämpfer traten an zum Appell: der untersetzte Rambo Grischa, die Bohnenstange Max, der pausbäckige Dickwanst Dimka mit seinem Dauergrinsen, die grimmige Brillenschlange Artur, der Karatekämpfer Kolja und der Fitnessfanatiker Sergej. Tolik mochte sie alle, so unterschiedlich sie auch waren.
Inklusive Kommandeur bestand der Trupp aus sieben Mann.
Ach ja, die Glorreichen Sieben … Blieb nur zu hoffen, dass sie auch vollzählig wieder zurückkehrten.
Einer nach dem anderen sprangen die Kämpfer aufs Gleis hinunter. Um auf dem Weg zur Belorusskaja möglichst wenig Ballast zu schleppen, nahmen sie nur zwei Kalaschnikows mit – eine für den Ersten und einen für den Letzten in der Kolonne.
Der achte Mann war Nikita. Seine allzu auffällige Uniform hatte er gegen ein abgewetztes Sakko, eine Hose mit ausgebeulten Knien und abgetragene Schuhe getauscht. Der Widerwille stand ihm ins kugelrunde Gesicht geschrieben. Es war anscheinend unter Nikitas Würde, wie ein Normalsterblicher auszusehen. Das Weichei hätte sich wohl am liebsten in einer Sänfte spazieren tragen lassen. Bei den Kommunisten hatte er sicher eine höhere Wertschätzung genossen als an der Guljaipole .
Selbst bei der simplen Übung, vom Bahnsteig aufs Gleis zu gelangen, stellte sich Nikita an wie der erste Mensch . A nstatt einfach hinunterzuspringen, legte er sich bäuchlings auf den Boden, robbte über die Kante und ließ sich langsam aufs Gleis hinabrutschen.
Obwohl Nikitas unbeholfene Gehversuche im richtigen Leben zum Spott einluden, wollte bei Tolik keine rechte Schadenfreude aufkommen, denn er wurde das Gefühl nicht los, dass der Dickwanst die Zirkusnummer mit Absicht veranstaltete.
Andererseits, wenn Nikita zum Führungszirkel der Lubjanka gehört hatte, war er sicher nur selten vor dem Problem gestanden, sich in einen Tunnel bemühen zu müssen, und wenn, so gab es bei den Kommunisten für solche Fälle sicher spezielle Leitern für hohe Funktionäre. Jedenfalls konnte es dem korpulenten Überläufer nicht schaden, seinen gesundheitsschädlichen Body-Mass-Index bei einem Fußmarsch etwas zu reduzieren.
Bevor Tolik in den Schlund des Tunnels tauchte, blickte er sich noch einmal um . A n der Station ging alles seinen gewohnten Gang. Neben den mit weißem Marmor verkleideten Säulen standen Grüppchen von Menschen, die sich lebhaft gestikulierend unterhielten. Im schummrigen Licht der Fünfundzwanzig-Watt-Lampen wirkten ihre
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