Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Entwicklung ging weiter.
Im Untergrund wurde nunmehr ein Duell ausgetragen: der Mensch gegen die neuen Kreaturen. Wobei es keine Garantie dafür gab, dass der Mensch diesen Wettkampf gewinnen würde. Der Sieg war dem Stärkeren vorbehalten, und das musste nicht unbedingt die ehemalige Krone der Schöpfung sein.
Eine leise Unterhaltung riss Tolik aus seinen Gedanken. So war es immer. Der Marsch durch einen Tunnel folgte einem seltsamen Ritual . A nfangs schwiegen alle und waren voll konzentriert. Doch nach kaum einer Stunde wurde das Schweigen unerträglich, und die Wachsamkeit ließ nach. Schuld daran war die schwelende Angst. Die beklemmende Finsternis löste die Zunge wie von selbst.
Dann begannen die Gespräche und das Geschichtenerzählen. Die Themen waren durch die Umgebung vorprogrammiert. Man erzählte sich alle möglichen Horrorgeschichten, deren Protagonisten aus der Dunkelheit des Tunnels gestrickt waren: Gespenster, Ungeheuer und natürlich Mutanten.
Ein bisschen mutiert waren die Bewohner der Metro inzwischen wohl alle, denn von der Oberfläche sickerte ständig radioaktive Strahlung ein. Sie vergiftete und entstellte die Menschen.
Vor Kurzem hatte Tolik einen richtigen Mutanten gesehen. Einen vielleicht zehnjährigen Jungen, der mit seiner Mutter zur Woikowskaja gekommen war. Nicht dass der Bub irgendjemanden hätte auffressen wollen . Von normalen Kindern unterschied er sich nur durch seinen vollständig kahlen Kopf, ein greisenhaft faltiges Gesicht und einen sechsten Finger an der linken Hand. Im Übrigen sah er aus wie ein ganz normaler Junge und benahm sich auch so.
Am liebsten hätte er sich den einheimischen Lausbuben angeschlossen und mit ihnen zusammen Unsinn getrieben. Doch die hatten keinerlei Anstalten gemacht, den Ankömmling in ihre Reihen aufzunehmen. Sie waren ihm nur auf die Pelle gerückt, um seine hässliche Hand anzugaffen. Der Junge hatte sich furchtbar geniert und seine Hand hinter dem Rücken versteckt . A ngesichts des niederträchtigen Verhaltens der Kinder war Tolik ein deprimierender Gedanke gekommen: Bei der Züchtung von Ungeheuern konnte die Natur dem Menschen nicht das Wasser reichen.
Als Tolik einen Seitenblick auf Nikita warf, hüpfte der Zeiger auf seinem Stimmungsdosimeter gleich mehrere Teilstriche ins Plus . Von der Fassade des geleckten Offiziers und blasierten Igittigitt-Zivilisten war nicht mehr viel übrig geblieben. Der Tunnel hatte ihm alles Aufgesetzte vom Leib gerissen und seine jämmerliche Kläglichkeit entblößt.
Der Überläufer machte ein Gesicht, als könnte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. In seinen Schweinsäuglein hockte die nackte Angst. Nikita blickte sich ständig um, spähte verzagt in die Dunkelheit und drängte sich dicht an Tolik heran. Im fremden Schuhwerk hatte er sich Blasen gelaufen und hinkte jetzt auch noch zu allem Überfluss. Wie hatte es dieser Warmduscher überhaupt allein bis zur Woikowskaja geschafft?
Tolik beschlich abermals das Gefühl, dass Nikita ein bisschen zu theatralisch litt.
Wäre irgendein anderer an Nikitas Stelle gewesen, hätte Tolik ihm eine kurze Pause gegönnt. Doch für den Gast von der Lubjanka empfand er kein Mitleid. Durchgeknallte – oder umgekehrt: eiskalt berechnende – Wissenschaftler mit ihren satanischen Experimenten waren ein dienstbares Werkzeug in den Händen solch unscheinbarer Fettwänste. Für Menschenversuche brauchte es immer auch politischen Willen.
Aber vielleicht täuschte sich Tolik in Nikita? Sicher, er war äußerlich ein Waschlappen, hatte die Marotten eines Schnösels und die Schulterstücke eines Henkers. Trotzdem war nicht auszuschließen, dass er sich im entscheidenden Moment als feiner Kerl entpuppen würde.
Tolik bekam Gewissensbisse und beschloss, den Überläufer ein bisschen aufzumuntern. Doch ehe er dazu kam, wurde er von Koljas Geflüster abgelenkt.
»Mutanten ohne Kopf? Diesen Unsinn glaube ich nicht«, sagte er zu jemandem in der Dunkelheit. »Ich habe es schon früher nicht geglaubt, aber nachdem mir letztens in der Bibliothek am Wodny stadion ein Buch mit dem Titel ›Hexenhammer‹ in die Hände gefallen ist, bin ich mir absolut sicher, dass es keine Mutanten ohne Kopf gibt. Das Buch ist eine mittelalterliche Anleitung zum Kampf gegen Hexen und Zauberer. Nichts Besonderes eigentlich . A ber ein paar interessante Stellen habe ich darin gefunden. Es kommt zum Beispiel eine Hexe vor, die bei einem Verhör zugibt, dass ihr bei ihren Zauberritualen ein
Weitere Kostenlose Bücher