Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Gesichter wie aus Wachs geformt.
Über die weißen Fliesen an den Wänden huschten Schatten. Tolik fand diese sterilen Kacheln trostlos . Vermutlich weil die Woikowskaja ursprünglich nicht zu den elitären Stationen der Metro gehörte, hatte man ihre Wände mit diesen weißen Fliesen verkleidet, die besser in ein Badezimmer, ein Leichenhaus oder ein Labor gepasst hätten.
Im Forschungslabor dieses Korbut sahen die Wände bestimmt genauso aus. Und die Fliesen waren blutverschmiert. Tolik hatte dieses Bild auf einmal sehr lebendig vor Augen.
Der Trupp verließ die Station. Nikita watschelte in der Mitte der Kolonne. Tolik ließ sich zu ihm zurückfallen, fasste ihn am Arm und hielt ihn fest, bis der Rest der Kämpfer vorbeigegangen war. Dann ließ er den Überläufer wieder los und bildete mit ihm zusammen den Schluss.
In dieser Formation passierten sie den Kontrollposten bei Meter 100. Die vier Wachmänner erkannten die eigenen Leute schon von Weitem. Sie grüßten kurz und sagten dann kein Wort mehr. Offenbar war während ihrer Schicht nichts Berichtenswertes passiert.
Zehn, zwanzig, dreißig Minuten lang blieben die gleichmäßigen Schritte des Trupps das einzige Geräusch.
Die Männer schwiegen eisern. Wenn du in einem solchen Tunnel nicht die Klappe hältst, kannst du gleich dein Testament machen. Jedes kleinste Geräusch, das du zu spät bemerkst, kann sich später zu einem Desaster auswachsen.
Die Bereiche hinter den Stationen Sokol und Aeroport galten als relativ belebt und sicher. Die Dinamo war sowieso ein Gewerbezentrum. Dort wurden Lederjacken für die ganze Metro produziert . A n der Belorusskaja hatte gerade ein Machtwechsel stattgefunden, und es herrschte ein ziemliches Chaos . A ber auch dort wurden – was man so hörte – keine Leute aufgehängt. Das Wichtigste war, heil durch den ersten Tunnel zu kommen.
Bald war es so weit . A lles lief gut.
Sie durchquerten die Station Sokol , dann begann der Reigen der gusseisernen Tunnelsegmente von Neuem: grau, schwarz, grau, schwarz …
Schatten, Licht, Schatten.
Wie in einem Schwarz-Weiß-Film.
Und dann plötzlich dieser blutrote Fleck …
Tolik bemerkte als Erster den mit dunkelroter Farbe geschriebenen Schriftzug, der quer über das Tunnelgewölbe verlief. Die interessante Frage »Wer glaubt hier nicht an die Bestie?« passte sich exakt der Wölbung der Tunneldecke an, und der Scherzkeks, der ihr Urheber war, hatte seinen Hals riskiert, um eine möglichst perfekte Parabel zustande zu bringen. Tolik hatte keine Augen für diese Akribie und beobachtete besorgt, wie seine Leute reagieren würden. Doch die maßen dem Spruch offensichtlich keine große Bedeutung bei. Bestien gab es in der Metro mehr als genug, wobei sich die meisten von ihnen auf zwei Beinen fortbewegten.
Der Lichtkegel der Taschenlampe schwenkte über das Halbrund des Tunnels . A n den Seitenwänden standen ganze Batterien rostiger Halterungen hervor, auf denen die Arterien und Venen der Metro ruhten: dick isolierte Kabel und Rohre verschiedensten Durchmessers. Sie liefen mal auseinander, mal zusammen, mal parallel, mal verschlungen, verschwanden einzeln im Betonboden und vereinigten sich wieder. Manche teilten sich in dünnere Stränge und krochen in kaputt e Verteilerkästen, deren Schalter inzwischen niemand mehr brauchte.
All diese Leitungen waren seit vielen Jahren außer Betrieb. Doch bedeutete dies, dass durch die Adern der Metro kein Blut mehr floss? Dass dieses im Untergrund verborgene Monster krepiert war und allmählich in Verwesung überging?
Auf den ersten Blick sah es in der Tat so aus. Doch wenn man genauer hinschaute, wurde man eines Besseren belehrt. Das Monster war nicht krepiert, sondern nur mutiert – wie alles andere Leben auch. Die Katastrophe hatte die Evolution gezwungen kehrtzumachen und einen anderen Weg zu beschreiten. Kabel und Rohre, vormals die Adern der Metro, waren verrottet und atrophiert.
Ihre neue Lebendigkeit schöpfte die Metro aus ihren Bewohnern – aus den Menschen und aus den unerforschten Lebensformen, die mittlerweile auf den Plan getreten waren. Die Funktion der Arterien hatten die Tunnel selbst übernommen. Durch sie floss das neue Blut der Metro. Wesentlich langsamer als früher und nicht so rhythmisch wie in besseren Zeiten . A ber es floss . A n den bewohnten Stationen verdickte es sich, und wo niemand lebte, trocknete es langsam ein. Die Lebenszyklen der Metro hatten sich verlangsamt, doch sie existierte nach wie vor, und ihre
Weitere Kostenlose Bücher